Jugendarbeit in der Türkei: Raumnot

Zwanzig Millionen TürkInnen sind zwischen 17 und 27 Jahre alt. Doch die staatliche Jugendarbeit steckt noch in den Anfängen und in Istanbul sind Jugendzentren Mangelware.

Platz in der Prüfung gibt es - aber auch für die Freizeit? Studenten in der Universität. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Die Zweimannband des Rappers Asil heißt "Aufstand gegen die Zerstörung". Seit vier Jahren macht der 18-jährige Musik und probt im Jugendzentrum der privaten Bilgi-Universität am oberen Ende des Goldenen Horns in Istanbul. Der Name seiner Gruppe bezieht sich auf das nahe gelegene Viertel Sulum. "Wenn man rational denkt, ist es gut, dass die Gegend abgerissen wird, wegen der Kriminalität und der Drogen. Aber es ist traurig, zu sehen, dass dabei auch eine Kultur zerstört wird", sagt der junge Musiker. "Der Staat macht nichts, außer uns zu unterdrücken. Viele haben keine Arbeit und nichts zu essen."

Das Jugendzentrum ist in einem quadratischen, von der Uni zur Verfügung gestellten Zimmer untergebracht. Aus den Fenstern blickt man auf einen Campus mit Platanen und Rosensträucher. Studierende sitzen vor der Mensa im Freien, ein Starbucks gibt es auch, dessen Preise sich jemand wie Asil keinesfalls leisten kann.

Doch innerhalb der vier Wände gibt ein anderer Takt die Musik vor. An der Rückseite ist ein schwarzer Bühnenvorhang mit aufgesteckten bunten Figuren und Rosetten aus Stoff halb zur Seite gezogen. In einer Ecke stehen Musikinstrumente, in der anderen sammelt sich allerlei Gerümpel hinter einem Wandschirm. Gegenüber steht ein Tisch mit einem alten Computer, den die Jugendlichen für ihre Musikvideos nutzen.

Im Zentrum gibt es unter anderem Tanz- und Musikworkshops, in deren Rahmen auch Themen wie Sexismus, Diskriminierung und Homophobie angesprochen werden. Es ist auch eine Anlaufstelle für circa 200 junge Männer und Frauen aus der Umgebung, von denen viele aus der unteren Mittelschicht stammen.

So wie der Schulabbrecher Asil. Seine Eltern waren beide Musiker, bis sich seine Mutter, bei der er seit der Scheidung lebte, der Religion zuwandte. Asil wollte auf eine Musikschule wechseln, was sie ablehnte. "Da sagte ich zu meiner Mutter", erinnert sich Asil, "dann gehe ich auch nicht mehr in die normale Schule." Jetzt lebt er bei seinem Vater, der nichts dagegen hat, wenn er mal bei seiner Freundin übernachtet. Zwei Jahre ist das jetzt her, und obwohl er seither kein Klassenzimmer von innen gesehen hat, führt Asil mit Musik und Sport "ein im Überfluss ausgefülltes Leben".

Zahlreiche freie Träger

Das Zentrum ist eines der Projekte von ZOG, der 2002 gegründeten größten Stiftung im Jugendbereich. Solche Organisationen sind in der Türkei relativ neu, denn nach dem Militärputsch von 1980 wurden nicht nur Parteien und Gewerkschaften verboten, sondern auch zivilgesellschaftliche Gruppierungen aufgelöst und das Vereinsrecht verschärft.

Von staatlicher Seite passiert in diesem Bereich wenig, bislang gibt es weder gesetzliche Grundlagen für die Jugendarbeit noch eine entsprechende Ausbildung. Doch dies ist vermutlich eine Frage der Zeit, denn im vergangenen Jahrzehnt haben sich zahlreiche freie Träger gebildet, wenngleich der Großteil der Jugendarbeit noch in den Händen von Freiwilligen liegt und staatliche Förderung weitgehend unbekannt ist. So fehlt es unter anderem an Räumen für Jugendliche jenseits von Familie, Schule oder Arbeitsplatz.

Die Arbeit von ZOG konzentriert sich auf junge Leute im Alter von 17 bis 27 Jahre - ihre Zahl wird auf 20 Millionen von über 73 Millionen Einwohnern der Türkei geschätzt - und ist im Rahmen von Uni-Klubs organisiert, die Projektvorschläge unterbreiten können.

Inzwischen gibt es 90 dieser Gruppen im ganzen Land, wie Evren Ergeg, Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen bei ZOG, erläutert. "Wir arbeiten mit der Crème de la Crème der Gesellschaft, meist gute Studenten, die sich verantwortlich fühlen", fügt er hinzu. Was im Gespräch zunächst etwas elitär klingt, relativiert sich bei der Besichtigung des Uni-Zentrums, dessen Arbeit auf Jugendliche aus ärmeren Familien zielt.

"Wir kämpfen gegen die Mentalität an", sagt Ergeg, "Es geht nicht darum, was man ist, sondern wer man ist." Es gibt Universitäten, die keine Räume zur Verfügung stellen, und Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder einen Musik-, Rhythmikworkshop oder einen Schachkurs besuchen. Asil kennt dieses Problem. In sein Zentrum kommen manche heimlich, sagen den Eltern, sie seien bei einem Kumpel oder einer Freundin.

Vom Sicherheitsdienst bewacht

Doch manchmal gibt es für Jugendliche nicht nur einen Raum, sondern gleich ein ganzes Gebäude, wie zum Beispiel ein Anfang des Jahres eröffnetes staatliches Jugendzentrum im Szeneviertel Beyoglu. In dem weißen, einstöckigen Gebäude gibt es einen Theatersaal, ein Zimmer für Hausaufgaben, einen Computerraum, ein Tonstudio und ein Musikzimmer mit einem Computertisch für den Lehrer und Notenständern für die Teilnehmer. Im Gegensatz zur Bilgi-Uni sieht es hier ganz nach Schule aus, die Hierarchie ist durch die Raumgestaltung vorgegeben.

Man kann sich schwer vorstellen, dass hier Jugendliche durch die Fenster rein- und rausspringen wie Asil und seine Freunde im ZOG-Zentrum, weil ihnen der Weg durch die Eingangstür zu umständlich ist. Alles sieht - noch? - neu und blitzsauber aus, so, als hätte noch nie eine Gruppe leibhaftiger Jugendlicher das Zentrum betreten, das 24 Stunden am Tag von einem Sicherheitsdienst bewacht wird.

Die Fahrt nach Istanbul wurde vom Bayerischen Jugendring (www.bjr.de) für Fachkräfte der Jugendarbeit organisiert. Der BJR versteht sich als jugendpolitische Interessenvertretung und setzt sich für die Förderung der Jugendarbeit aus öffentlichen Mitteln ein, die Selbstorganisation junger Menschen und internationalen Jugendaustausch.

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