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Kommentar Studie "Deutsche Zustände"Die halbe Aufklärung

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Es ist alarmierend, dass laut der Studie das untere Fünftel der Gesellschaft verachtet wird. Und dass jeder zweite Deutsche meint, unser Land sei überfremdet.

I n den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz, fast überall in Europa gibt es starke rechtspopulistische Parteien. Nur in Deutschland sind alle Versuche, die Erfolge von Wilders, Le Pen oder Blocher zu imitieren, zum Glück gescheitert. Vom grassierenden Überdruss am politischen Betrieb profitieren hierzulande bei Wahlen eher Grüne und Piraten.

Der deutsche Populismus ist, verglichen mit der rüden Xenophobie in einigen Nachbarländern, zivil und nett. Natürlich spielt dabei die Imprägnierung durch die Erfahrung der NS-Zeit eine Rolle.

Wenn wir den Forschungen des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer folgen, gibt es zudem eine Tendenz, die die Misserfolge rechter Parteien verständlicher macht: Die Zahl überzeugter Rechtspopulisten, die auf Xenophopie, Antisemitismus und Islamfeindschaft anspringen, ist in den letzten zehn Jahren um ein Drittel gesunken.

taz
STEFAN REINECKE

ist Parlamentskorrespondent der taz.

Die deutsche Gesellschaft ist nicht schwarz-weiß. Es wird auch nicht immer alles schlimmer. In dieser empirisch soliden Studie erkennt man vielmehr den Abdruck einer veränderbaren, offenen Gesellschaft - mit allen Widersprüchen und Verbohrtheiten. Manche Vorurteile, etwa gegen Homosexuelle, Juden und Frauen, haben deutlich abgenommen. Andere, vor allem gegen Arbeitslose und Migranten, sind sogar stärker geworden. Will sagen: Frauenquote und schwule Minister sind irgendwie ok - der muslimische Hartz IV-Empfänger hingegen taugt weiter als mobilisierbares Angstbild.

Es ist frappierend, dass das soziale Ressentiment, die Verachtung des unteren Fünftels der Gesellschaft, zur deutschen Normalität gehört. Und es ist alarmierend, dass die Hälfte der Deutschen meinen, unser Land sei in gefährlichem Maß überfremdet.

Beides zeigt, welche Abgründe in der Mitte unserer Gesellschaft verborgen sind. Und doch ist der routinierte linke Verdacht, dass man den Deutschen halt nicht über den Weg trauen darf, falsch. Die Botschaft dieser Studie lautet vielmehr: Aufklärung wirkt.

Es ist kein Zufall, dass die Bürger der Bundesrepublik mit Antisemitismus, Homophobie und Sexismus heute weniger zu tun haben wollen als vor zehn Jahren. Es ist das Echo einer mühsam durchgesetzen gesellschaftlichen Ächtung von Judenwitzen, Schwulenbashing und Frauenverachtung. Die Frage, an uns, an die Politik, lautet: Wie kann eine solche Ächtung auch bei Vorurteilen gegen Arbeitslosen und Migranten gelingen?

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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17 Kommentare

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  • J
    jaklar

    Wow @Kati! Was für ein Argument: An Fremdenfeindlichkeit ist also die "Überfremdungspolitik" (was auch immer das sein soll...)schuld, sprich die Fremden selbst. Aha. Was erzählst Du uns als Nächstes? Dass an Schwulenfeindlichkeit die Schwulen selbst Schuld sind (könnten ja auch einfach hetero sein, nicht wahr?) Oder dass am Antisemitismus...du weißt was ich meine?

  • K
    Kati

    Beides ist Folge konkreter Politik. Das eine von SPD / Grün 1998 bis 2005, das andere der Überfremdungspolitik, bei der den Menschen erzählt wird, was sie für Gut halten sollen. Hier geht es um einen Bevölkerungsaustausch. Die Menschen, die 80 Millionen existierenden Özdemirschen Bio-Deutschen? Für die taz Überfremdungsgegner und somit Balast? Gehirnwäsche a la Fascho-Blatt?

  • N
    Nick

    @Fnark: Wer an die Stelle der Muslime rücken würde? Also ich wäre da ja für die ganzen selbsternannten "Islamkritiker" die sich im Netz tummeln und feige hinter ihren Nicknames verstecken...

  • JB
    Jochen B.

    Lieber Stefan Reinke & Tazzler!

     

    Fangt doch intern schonmal damit an und denkt drüber nach, worin (sprachlich-mental) der Unterschied besteht zwischen "Hartz-4 Empfängern" und "ALg-2 Beziehern".

    Klingelt´s ?

    Gerne bin ich Empfänger eines Weihnachtspakets. Almosen dagegen "empfange" ich nicht so gerne. Das klingt (zumindest heutzutage) sehr nach "Nickneger"; manche erinnern sich noch an die Sammelfigürchen für die Groschen der Kinder neben den Weihnachtskrippen in der Kirche.

    Als "Bezieher" erhalte ich eine (nach penibelster Prüfung) rechtlich mir zustehende staatliche Leistung, die - als Nahziel- pauschalisiert repressionsfrei und letztlich in ein vernünftig gestaltetes Grundeinkommen überführt werden sollte.

    Letzteren Begriff verwende ich auch, wenn ich beim Trampen nach meinem Lebenswandel befragt werde und von meiner bezahlten Arbeit und ehrenamtlichen Arbeit/Tätigsein erzähle. Auch konservative Geister sind dann "beruhigt".

  • N
    Normalo

    Der Spießbürger liebt eben das Mittelmaß und verachtet die Abweichung davon. Die grassierende Verachtung für die unteren 20 Prozent korespondiert ja auch sehr schön mit der Verfänglichkeit jeglicher verächtlicher (darf ich "linkspopulistischer" sagen?) Rhetorik gegen die "Reichen", die je nach Lesart, was "reich" jetzt eigentlich ist, die 2 bis 40 oberen Prozent der Gesellschaft ausmachen dürften.

  • F
    Fnark

    Selbst wenn es bei der momentan vorherrschenden antimuslimischen Stimmung möglich wäre, eine Ächtung der offen und latenten Islamophobie zu erreichen bliebe die Frage, welche Gruppe innerhalb der Gesellschaft an die Stelle der Muslime rückt; ganz ohne Sündenbock kommt keine Gesellschaft aus, weder früher, noch heute und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht.

  • I
    ilmtalkelly

    Nach Überwindung politischer und ethnolog. Ausgrenzung ist die materiell begründete geradezu eine Folge dessen. Zwischen Wohlstandsmenschen und Freidenkern gibt es wenig Schnittmenge.Die Ersteren bringen oft genug die Abgrenzung quasi als charakt. Ausstattung zur Erlangung ihres Erfolges mit. Es ist schade, dass das Bescheissen irgendwann wörtlich zu Clevernis mutierte und Gutmensch zum Schimpfwort wurde. Zum anderen ist bei Ausgrenzung der Unterschicht eine ganze Menge Integrationsprekariat dabei. Da wäre der Pelz gewaschen, ohne nass zu werden.

     

    In dieser Schärfe kann man Abgrenzungstrends nicht darstellen. Es gibt einen Umstand, der die Ausgrenzung des vermeintlich Schwächeren immer wieder und in welcher Form auch immer neu entstehen lässt. Der Zwang, sich für was Besseres zu halten und hier wird jeder mehr oder weniger in seiner Kindheit geprägt. Ich bin nicht der Ansicht, dass eine übergreifende politische Diskussion die Verachtung, die medial und marktpolit. noch gestützt wird, in naher Zukunft austrocknen wird. Das bedürfte eines grundsätzlichen gesellsch. Wandels, der an den kleinsten Kindern nicht vorbei geht und deren Sozialkundelehrer nunmal oftgenug ausgrenzende eigen(süchtig)-e Eltern sind.

     

    Ungeachtet des tatsächlichen eigenen gesellsch. Standes gilt: Umso mehr ich unter mir sehe, desto wertvoller sehe ich mich selbst. Das ist der unüberwindbare Kern unserer gegenwärtigen freien Marktwirtschaft, dem eine

    Nachkriegsgeneration langsam weg stirbt.Ich bin in der Sache wenig zuversichtlich.

  • K
    Kufer

    Das Problem ist doch, dass in den Deutschen im Moment sehr viel Hass steckt. Hass auf die Politik und ihre Korruption (ja ich meine die Deutsche Politik). In anderen Ländern wie Frankreich oder Griechenland wird dieser Hass durch Demonstrationen und Streiks an die Politik weitergegeben. Doch nicht in Deutschland. In Deutschland wird der Hass projiziert. Auf Randgruppen, auf Andersdenkende, auf jeden der einem grad nicht passt.

    Die Frauen-, Blondinen-, Juden- und Ostfriesenwitze, die vor 10 Jahren erzählt wurden, waren ja nicht böse gemeint. Jetzt gibt es immer mehr Männerwitze, die dann ja als genauso schlimm angesehen werden müssten. Das Problem warum diese Witze heute "Schlimm" sind, ist dieses katastrophale Prinzip der Political-Correctness, das jedem der aus der Reihe Tanzt, und sei es auch nur aus Spaß, an den Pranger stellen will.

    Denkt doch für euch selbst und lasst nicht für euch denken!

  • W
    Wolf

    Dürfen wir denn gar keine Vorurteile haben? Müssen wir bald ohne Sündenböcke leben?

    Wohin dann aber mit unserer Angst, unserer Wut, unserem Zorn?

    Und was geschieht mit der Gesellschaft, wenn es wirkliche Aufklärung gibt?

    Wenn Menschen plötzlich wissen, dass sie nur etwa zwei Stunden täglich für sich selbst arbeiten?

    Oder gar, dass unser Konsum- und Wachstumswahn jedes Jahr so viele (menschliche) Opfer fordert, wie der gesamte 2. Weltkrieg?

    Aufklärung, wer will denn das? Damit lässt sich nichts verdienen. Deshalb wird in den Zeitungen auch kaum etwas Aufklärendes stehen.

  • V
    vic

    Die deutsche Gesellschaft ist nicht überfremdet, sie ist verblödet. Da ist meine Sicht der Dinge, und ich muss es wissen.

    Ich bin mittendrin.

  • R
    Ralph

    "Wie kann eine solche Ächtung auch bei Vorurteilen gegen Arbeitslosen und Migranten gelingen?"

     

    Auf Kosten von anderen. Der Mensch braucht einfach ein Feindbild, genauso wie er eine... ich nenn's mal "Leitfigur" braucht.

     

    Also bliebe letztlich nur, ein künstliches Feindbild zu schaffen - wie immer das aussehen sollte. Wir gegen alle anderen", so wie die USA das tut? Oder einen Prügelknaben (NICHT bildlich) haben? Oder, im religiösen Sinne, eine Art Messias haben (der dann Leitfigur und Feindbild zugleich sein könnte)?

     

    Letztlich ist nichts davon optimal... aber es ist zu erwarten, daß wir uns ganz einfach eine neue "Haßgruppe" suchen, wenn eine bestehende abgeschafft wird.

     

    Daher wäre vermutlich der beste Weg, eine Tabuisierung gänzlich zu vermeiden und stattdessen auf Moderation zu setzen. Dafür zu sorgen, daß "Political Correctness" nicht mehr als indirekte Bigotterie verstanden wird. Es also zuzulassen, daß auch mal auf den Tisch gehauen werden darf, ohne daß ein (100% gekünstelter) Aufschrei durch die Gesellschaft geht, weil zB ein Politiker (oder ein Star, oder sonstwer) es einfach versäumt hat, seine Meinung ausreichend in "Political Correctness" zu kleiden oder - viel schlimmer - ihm einfach seine Worte in schlimmstmöglicher Weise ausgelegt wurden, obwohl er das tatsächlich gar nicht so gemeint hatte, kurz: Akzeptanz. Bis zu einer gewissen, aber sinnvollen, Grenze.

     

    Denn ein "scheiß Hartz IV Moslem" führt nirgendwohin, wenn die allgemeine Antwort darauf eine "Nicht-Reaktion" ("Jaja, ist schon gut") ist; alles andere bestätigt den gemeinen Aufmerksamkeitssucher nur.

  • K
    Karl-Heinz

    Meiner Meinung nach stellt dieser Kommentar die realen Verhältnisse vollkommen auf den Kopf. In Hinblick auf die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern rangiert Deutschland innerhalb der OECD auf den hintersten Plätzen. So findet man in der Bundesrepublik sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der Privatwirtschaft deutlich weniger Frauen in führenden Positionen als in vergleichbaren OECD Ländern. Aus der Tatsache, dass Personen in Befragungen keine frauenfeindlichen Aussagen tätigen, darf man also nicht schließen, dass sexistische Einstellungen auf dem Rückzug sind. Aus meiner Sicht ist es vielmehr Mode, sich selber als aufgeklärt zu bezeichnen und für die Gleichstellung von Frauen und Homosexuellen einzutreten, während man sich gleichzeitig abwertend gegenüber Muslimen äußert. Der Rassismus zeigt sich gerade in der Kopplung der Aufwertung der eigenen Kultur und gleichzeitiger Abwertung der Kultur des anderen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Deutschland weiterhin ein chauvinistisches Land ist, in welchem Frauen gesellschaftlich unterdrückt werden. Umso amüsaner finde ich es, dass Tansu Ciller bereits 12 Jahre vor Frau Merkel Ministerpräsidentin der Türkei geworden ist.

  • N
    Nadia

    Also, diese Studie, na ja, nach der extremen Meinungsmache gegen Hartz-IV-Empfänger durch die SPD, dann das Buch von Immernoch-SPD-Mitglied Thilo Sarrazin waren ja regelrechte Propaganda. Und die wurde durch Bild und SPIEGEL befeuert. Das ist die Wahrheit.

     

    Gerade der Hass auf Arme und Arbeitslose ist an sich schon unglaublich, weil er einfach nur von den Problemen am Arbeitsmarkt ablenken soll. Die Minister Glos und Scholz sprachen schnell von Vollbeschäftigung, während der Arbeitslose bei der Zeitarbeit auf 5 bis 7 EURO die Stunde gebresst wurde, egal welche Qualifikationen er mitbrachte.

     

    Deswegen kann ich nur sagen: Es ist doch vollkommen untragbar, dass der Staat überhaupt Millionen für PR-Maßnahmen erlaubt. Alleine Superminister Wolfgang CLement (Damals SPD) soll so viel Geld für Promotion für Hartz-IV ausgegeben haben, wie kein andere Minister vor ihm in diesem Ressort. Insofern: Schön, dass jemand jetzt diesen Damen und Herren, belegt, wie erfolgreich ihre Kampagne gegen Arme und Arbeitslose war, dass der Querschläger Thilo Sarrazin dem noch ein Islam- und Ausländerfeindliches Gesicht aufgesetzt hat, störrt immerhin die SPD nicht weiter, mich aber schon.

  • S
    Sebastian

    Wenn die Tibeter meinen, dass schon 10 % Han Chinesen ausreichen um von Völkermord zu sprechen, wie soll man die Zustände in Deutschland benennen?

  • T
    tommy

    "Die Frage, an uns, an die Politik, lautet: Wie kann eine solche Ächtung auch bei Vorurteilen gegen Arbeitslosen und Migranten gelingen?"

     

    Na am besten durch staatlich gelenkte Umerziehung und drakonische Strafen gegenüber falschem Verhalten. Gibts in anderen Ländern wie GB ja schon, siehe zum Beispiel:

    http://www.guardian.co.uk/technology/2011/dec/06/christmas-prison-women-tram-youtube?INTCMP=SRCH

     

    Muss natürlich sorgfältig im Rahmen von Kultursensibilität differenziert werden, siehe z.B. hier:

    http://www.dailymail.co.uk/news/article-2072459/Rhea-Page-Muslim-girl-gang-sentence-sends-wrong-message-street-violence.html

     

    Ein Modell für Deutschland!

  • BS
    Bissiges Schaf

    Was jetzt?

    Ist es der Skandal, dass die Häfte sieht, dass Deutschland überfremdet ist oder dass Deutschland überfremdet ist oder dass die andere Hälfte die Überfremdung nicht sieht?

     

    Bitte etwas genauer, liebes TAZ-Kollektiv.

  • R
    Rita

    Frauenquote und schwule Minister sind irgendwie ok - der muslimische Hartz IV-Empfänger hingegen taugt weiter als mobilisierbares Angstbild.

     

    Frauenquote und homosex. Minister kosten Deutschland auch keine Milliarden Euro Szialleistungen. Das ist der Unterschied.