Türen schließen selbsttätig

Die Mittel für den Nahverkehr sollen gekürzt werden. Wie schade! Jetzt heißt es wieder Abschied nehmen von einem Teil des Prinzips „BRD“: den staatlich subventionierten Regionalzügen. Sie waren oft eine Qual – aber sie haben die Schichten der Gesellschaft vernetzt. Eine Regiotour zur schönen Erinnerung

VON SUSANNE LANG

Hier fiept nichts. Schon gar nicht mehrmals. Keine Türe fügt sich geräuschlos in einem aerodynamischen weißen Röhrenkörper. Kein Teppich empfängt, kein Bordbistro verführt. Hier verschluckt der Hohlkörper eines Großraumabteils den Fahrgast, zwängt ihn enge Treppen nach oben und unten, Fahrgast-Stauraum auf zwei Etagen, am Boden grauer PVC, auf den Sitzen blauer Bezug, in Knallrot rattert er denn los, der Regionalzug.

Moosburg, Niederbayern, Strecke Landshut–München

Eine Vierersitzgruppe, drei Plätze besetzt, ein Mann im Jackett, zwei andere gegenüber in kariertem Hemd. Sie sitzen, schweigen. Eine junge Frau steigt zu, der Anzugmann stellt seine Aktentasche auf den freien Platz neben sich. Die Frau fragt höflich, ob frei sei. Er reagiert nicht. Die Frau fragt noch einmal. Er seufzt und nimmt die Tasche weg. Die Frau setzt Kopfhörer auf, hört Musik. Er stupst sie in den Arm. „Machen Sie das doch leiser.“ Der Pendler, mittelschichtsverbrämt, immer im Anrecht auf seinen Platz in seiner Bahn. Hier, im Süden Bayerns, fahren viele dieser Pendler in ihrem Regionalexpress.

Kein weißer Pfeil wie der ICE, der Botschafter einer globalisierten Welt, das Bindeglied zwischen den Metropolen, ein Ort des Transits für Laptopfahrer und Handyquatscher, er, der Regionalzug, ist ein basisfunktionales, föderales Transportmittel. Berufstätige. Radfahrer. Schönes-Wochenend-Ticket-Besitzer. SchülerInnen. Hier dominiert die zweite Klasse, die erste – nicht mehr als ein Zitat des luxuriösen Reisens – ziert den Zug mit drei, vier Plätzen pro Wagon. Sie sind nie besetzt. Hier reist die Masse. Gut fünf Millionen sind es nach Angaben der Deutschen Bahn, täglich, inklusive S-Bahn-Fahrer. Dialektgefärbt pendelt die Masse standesgemäß durch die Provinz, hin- und her zwischen Stadtzentren und Peripherie.

Stade, Niedersachsen, Strecke Cuxhaven–Hamburg

Eine Gruppe von Schülern steht am Bahnsteig. Wartet auf ihren Zug. Ein Mädchen kommt angerannt. Schnauft laut. Sie wird den Zug schaffen. Dank seines „fünf Minuten später“. Ihr Ziel: Buxtehude, Zentralschule. Stade hat keine Autobahnanbindung. Stade fährt Regiobahn. „Ach, am liebsten würde ich gleich nach Hamburg weiterfahren“, sagt das Mädchen, als der Zug einfährt. Teenager, angeschlossen an die urbane Welt.

Die Regionalbahn. Oder, ihre Luxusvariante, die ein bisschen schneller ist, die weitere Distanzen zurücklegt: der Regionalexpress – sie repräsentieren einen letzten Ausschnitt Welt der guten alten BRD-Gesellschaft, die es längst nicht mehr gibt, aber so gerne behalten werden will. Ein Zivilisationsprojekt, das in ursprünglich sozialdemokratischer und marktwirtschaftlicher Tradition den Arbeiter, den edlen Proletarier mit der Welt des Wachstums vernetzte, den ländlichen Raum an die industriellen Produktionsstätten anschloss, eine Aufstiegsgesellschaft, nicht nur räumlich durchlässig, eben auch sozial. Die einem Grundsatz folgte: dem des „Immer mehr“. Und durchlässig – vor allem nach oben. Heute ist sie es wieder nach unten, für alle, ganz demokratisch.

Jetzt, da eine weitere Subvention in Frage gestellt wird, da der Bund die staatlichen Mittel für den öffentlichen Nahverkehr in Höhe von gut 7 Milliarden Euro um 10 Prozent kürzen will und die Mobilität in den Regionen privatwirtschaftlicher Verantwortung übergeben will, rückt es erneut ins Bewusstsein: Diese Gesellschaft ist längst dabei, sich neu zu strukturieren – und scheint oftmals doch so träge tingelnd nicht dazu bereit.

Karlshorst, Berlin, Strecke Rathenow– Lutherstadt Wittenberg

Vier Männer, um die vierzig, mit weiß-roten Fußballschals, lümmeln auf der Zwischenetage in ihren Klappsitzen. „Oh nein, nicht schon wieder stehen bleiben“, knurrt der Schnauzbart. „Das gibt’s doch nicht“, der Vollbart. „Wir kommen zu spät zum Spiel.“ Verspätung. Blitzeis. Schneeverwehung. Aber da ruckelt die Bahn schon weiter. „Wir fahren wieder nach Österreich“, erzählt der dritte Mann, „so ein Spaß.“ Skifahren. Urlaub, solange es ihn noch gibt. Die Freizeit-Tingler, die modernen Stadtflüchtlinge, die die Landidylle dem schnellen Stadtraum vorziehen, sie brauchen ihre Regionalbahn. Und das bitte pünktlich.

Jetzt, da der Staat weniger Geld für die räumliche Teilhabe bereitstellt, verringern sich Zugtaktzeiten, verringert sich die Anzahl der Verbindungen, verknappt und verteuert sich der Anschluss an die moderne Welt. Daran wird auch ein „Pakt für bezahlbare Mobilität“ wenig ändern, an dem Verkehrsunternehmen nun basteln. Eine gesellschaftliche Schicht – Geringverdiener, Land- oder Vorstadtbewohner – wird abgetrennt. Exklusion lautet das Prinzip der gegenwärtigen, postbundesrepublikanischen Gesellschaft. Die zurzeit so viel beredete „Unterschicht“ ist nicht nur eine angstbesetzte Chimäre, sie wird sichtbar. Nicht nur die Zahl der Besitzlosen wird steigen, auch die der Unmobilen, vom Schienenverkehrsnetz abgekappten.

Beratzhausen, Franken, Strecke Nürnberg–München

Eine Familie, Raucherecke, am Ende des Zuges. Alle rauchen, nur der 8-Jährige nicht. Ein dunkelhäutiger Teenager schnauzt den Vater an: „Dir ist eh alles scheißegal.“ Der Vater schaut nicht hoch, raucht weiter. Vorweihnachtszeit. Reisezeit. Die Mutter fleht den Teenager an: „Ist gut jetzt.“ Er setzt nach. „Jetzt sag doch was, kümmer dich doch mal um deinen Sohn.“ Der Vater brüllt los. Unnütz – sei sie, die Mutter. Er verlässt das Abteil. Wirft seine Kippe auf den Boden – zu all den anderen, die sich dort im Laufe der Fahrt von rauchenden Reisenden angesammelt haben. Der 8-Jährige rennt ihm nach. Die Schaffnerin kommt. Vermittelt. Ungefragt. Der Vater bockt. „Alles Schnorrer“, sagt er noch. Dann schweigt er. Für den Rest der Fahrt.

Die Bahn ist nur ein Spiegel – so wie sie es seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert immer war – für gesellschaftliche Veränderungen, gleichwohl gab sie die Impulse dafür. Die Industrialisiserung – ohne ihre Infrastruktur nicht denkbar. Das Nachkriegs-Wirtschaftswunder. Die alltägliche Arbeitsmigration. Heute konzentriert sich die Bahn auf urbane Managerkunden und Freizeitflaneure, strebt Privatisierung und Börsengang an. Die Bahn kommt, ein Rest bleibt zurück. Es geht trotzdem weiter – nur anderswo, mit anderen.

Die BRD – sie war eine Ausnahmesituation. Nur in den Jahren der Vollbeschäftigung seien die Städte und ihre Peripherien zusammengewachsen, wie es der Berliner Stadtsoziologe Hartmut Häußermann analysiert. Zuvor waren sie Alltag: abgeschnittene Vorstadtteile und Regionen. Armutsviertel im schlechtesten Fall. Die BRD garantierte nicht nur den Flow der Güter, sondern auch den ihrer Bürger. Mobilität für alle. Freiheit und Recht auf Bewegung. Bis sich der pendelnde Arbeiter, aufgestiegen in die Mittelschicht, Pauschalen-gepeppelt sein Auto leisten konnte.

Jetzt, da Mobilität wieder zum Luxusgut wird, da die Stadt konsequenterweise wieder „eine Renaissance“ erlebt, da das Leben im urbanen Raum wieder zwangsweise gefragt ist, wie es etwa der Münchner Architekturprofessor Dietrich Fink prognostiziert, jetzt aber entwickelt sich der Wohlfahrtsstaat zum flüchtigen Beifahrerstaat.

Kremmen, Brandenburg, Strecke Wittenberge–Berlin Charlottenburg

Drei Mädels kuscheln sich kichernd auf zwei Plätzen zusammen. Ein Junge steigt ein. Ein deutsch-türkischer Junge, schmal, braune Augen, penibel geschnittenes schwarzes Haar, mit einem angedeuteten Elvis-Tollen-Versatz. „Guck ma“, kreischt eines der Mädels laut und klimpert mit den pink bemalten Augenlidern, „der ist ja lecker!“ Die anderen beiden kreischen sofort los. Der Junge rennt weg. Zumindest ins nächste Abteil. Die Bahn verbindet – manchmal leider.

Die parallel zur Stadt vollzogene Renaissance der Bahn, wie sie Ralf Roth, Historiker und Mobilitäts- bzw. Stadtforscher aus Frankfurt, Ende der 90er vorhergesagt hatte, bleibt wohl vorerst aus. Zumindest in ihrer herkömmlichen Form. Aufgrund des prognostizierten Städtewachstums gewinne, so Roth, die Bahn „als städtisches Nahverkehrsmittel und als schnelles Verknüpfungselement von Stadträumen mit anderen urbanen Entlastungsräumen“ zentrale Bedeutung.

„Verkehr ist Zivilisation“, so umschrieb es Rudyard Kipling. Das wird er bleiben. Nur in anderen Raumdimensionen. Der Regionalexpress von morgen tingelt ja schon, erfolgreich vernetzend, nur ganz woanders: zwischen Frankfurt (Oder) und Posen. Oder zwischen Puttgarden und Rödby. Ein Spiegel der europäischen Gesellschaft, und ihrer Schichten, die sich nun vernetzen.