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Debatte WulffDie herrschende Klasse

Kommentar von Markus Linden

Wulffs Rücktritt wäre angemessen – relevant ist er allerdings nicht. Wichtiger ist die Durchleuchtung des Geflechts von Politik und Ökonomie.

Ein Rücktritt von Wulff ist angebracht, löst aber das Problem nicht. : dapd

C hristian Wulff ist nominell Bundespräsident, aber vor allem symbolisiert er die aktuelle politische Klasse. Wulff steht für die oft harmlos daherkommende, in der Addition und Qualität vorhandener Beziehungen jedoch machtvoll entdemokratisierende Symbiose von politischer und ökonomischer Macht. Ob er zurücktritt, ist letztlich weniger relevant.

Was passiert denn nach Ende der Personaldebatte? Das ist die entscheidende Frage. Sollte die Öffentlichkeit den eigentlichen Kern des Problems wieder aus dem Auge verlieren und stattdessen über weiche Faktoren wie "Würde", "Vertrauen" oder "Kommunikation" räsonieren, wäre nichts gewonnen.

Das gilt erst recht, wenn im Falle einer neuen Kandidatenkür wiederum nur diese Kriterien diskutiert werden. Das Potenzial kritischer Öffentlichkeit hätte sich nur angedeutet. Die Medienmacht wäre zurückgekehrt in den warmen Schoß einer unhinterfragt bleibenden ökonomischen Vermachtung.

Die Macht des Informellen

ist Politikwissenschaftler an der Universität Trier. Zuletzt erschien "Krise und Reform politischer Repräsentation" (hg. zusammen mit Winfried Thaa), Baden-Baden 2011.

Folgt man der Analyse des Elitentheoretikers Gaetano Mosca (1858-1941), so wird es immer eine herrschende und eine beherrschte Klasse geben. Die herrschende Klasse sei wesentlich kleiner, sichere ihre Machtposition aber durch die Fähigkeit zur Organisation und trage in der Regel familienähnliche Züge. Moscas These kann auch heute noch zur kritischen Politikanalyse herangezogen werden. Man muss sie anpassen und insbesondere der Informalität von Beziehungsstrukturen Beachtung schenken.

Außerdem gilt es zu bedenken, dass die Beteiligten ihre eigene Position im Spiel bisweilen gar nicht wahrnehmen – vor allem, wenn es funktioniert. Wulffs Fall zeigt, welcher Dominoeffekt ausgelöst werden kann, wenn ein Teil des Beziehungsgeflechts zerreißt, in diesem Fall die informelle Allianz zwischen dem Bundespräsidenten und Bild.

Seitdem haben insbesondere drei Printmedien Wulff ins Visier genommen. Das ist trotz eines gehörigen Maßes an Klein-Klein und Spekulation berechtigt. Wulff hat den Landtag getäuscht und verkauft einen Kredit zu Traumkonditionen als Normalität. Die Allianz von Bild, Spiegel und FAZ ist dennoch einzigartig. Kommentare, Titelblätter und das Spiel über Bande spiegeln eine zwar unterschiedlich motivierte, aber mannschaftlich geschlossene Eindeutigkeit der Verurteilung. Deren Resonanzboden besteht darin, dass über Wulff sinnbildlich geurteilt wird.

Unausgesprochen steht er für jene Angehörigen der politischen Klasse, deren programmatische Eigenleistungen über die attestierte Wirtschaftsfreundlichkeit hinaus im Nanobereich zu suchen sind. Nur so können selbstverständliche Sätze ("Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland") als revolutionäre Aussprüche gedeutet werden. Das Verwalten des Politischen im Dienste der Wirtschaft paart sich häufig mit persönlichen Beziehungen zu ökonomischen Eliten, deren Existenz im Idealfall von der nun zerbrochenen Allianz zum Boulevard zugekleistert wird.

In diesem Teich ist Wulff ein Fisch von eher bescheidenem Format. Wäre da nicht seine Position. Andere wurden pfleglicher behandelt, obwohl nach Ausscheiden aus dem Amt die Lobbyarbeit – Pardon! – Beratungstätigkeit mit Bezug zum ehemaligen Entscheidungsbereich zur üblichen Berufswahl gehört. Gerhard Schröder und Roland Koch sind nur die bekanntesten Protagonisten einer unlauteren, aber rechtlich offenbar tolerablen Praxis.

Die absolute Trennung von Politik und Ökonomie mag man wahlweise als Relikt antiker Philosophie oder utopisches Ziel ansehen. Die systematische Missachtung und Umkehrung des Prinzips untergräbt jedoch die Demokratie.

Dafür steht etwa die Besetzung und Arbeitsweise der "Hartz-Kommission" im Jahr 2002, wo zwei Gewerkschaftsvertretern die Zustimmung zu den Eckpunkten der gleichnamigen Reform abgerungen wurde. Dafür stehen die handverlesenen Wirtschaftsdelegationen, mit denen Guido Westerwelle seine ersten Auslandsreisen antrat.

Dafür steht die Mitarbeit von Lobbyisten in Ministerien oder die informelle Einbindung des Bankensektors in die Entscheidungsprozesse europäischer Bankenrettung. Und dafür stehen eben auch – eher auf der symbolischen denn auf der entscheidungsrelevanten Ebene – Wulffs Freundschaften und Kreditkonditionen. Kurzum: Geht es um eine amtierende Person von offensichtlicher Fehlbarkeit, so geht der mediale Aufmerksamkeitspegel eine temporäre Allianz mit den Funktionen kritischer Öffentlichkeit ein. Die Trophäe verbindet.

Hang zur Wutpresse

Der beobachtbare Hang zur Wutpresse liegt aber auch darin begründet, dass die Printmedien ihre Rolle zur Zeit des neoliberalen Reformdiskurses insgeheim kritisch bewerten. Vom Fernsehen ist diese Selbstreflexion nicht zu erwarten. Das Medium hinkt intellektuell ähnlich hinterher wie die Bloggerszene. Umso wichtiger ist es deshalb, dem informellen Beziehungsgeflecht von Politik und Ökonomie auch ohne personalisierten Skandalisierungsfaktor nachzugehen.

Es gibt starke Indizien für die modifizierte Existenz einer herrschenden Klasse. Die Bevölkerung teilt derartige Vorurteile. Solange die Diskussionen aber symbolisch auf "den Fall Wulff" und andere Ausreißer beschränkt bleiben, kann die Politik damit recht gut leben, ohne an überkommenen Strukturen zu rütteln.

Es gilt andere Fragen zu stellen als diejenige nach dem Rücktritt des Präsidenten. Sind die Transparenzregeln für Nebeneinkünfte von Abgeordneten ausreichend? Welche Nebentätigkeiten sollten verboten werden? Wie lässt sich das Lobbywesen wirksam regulieren? Sollte man Berufsbeschränkungen und extensive Karenzzeiten für ausgeschiedene Amtsträger einführen?

Wulff dient als Symbol für die politische Klasse, von deren Machtkalkülen er sich mit naiven Menschlichkeitsbekundungen zu distanzieren sucht. Die Ausweitung von Transparenz- und Inkompatibilitätsregeln würde der Überzeugungskraft solcher Symbolisierungen entgegenwirken. Eine kritische Öffentlichkeit hat die Aufgabe, das Einhalten dieser Regeln einzufordern. Die Alternative besteht darin, sich wieder auf Tattoos und Adelstitel zu konzentrieren.

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