Die Königin der Züge

BEGLEITUNG Corinna Lange hat viel zu sagen. Zuhörer findet sie auf Bahnhöfen. Sie lässt sie auf ihrem Ticket mitfahren und erzählt ihnen ihr Leben

Menschen drängen sich durch die Bahnhofshalle zur U-Bahn-Station, zu Taxen, zu Bussen, zum Dom. Grölende Fußballfans, Reisende mit Rollkoffern, Frauen auf hohen Absätzen, Bier, Schweiß, süßes Parfüm

VON JANNIS CARMESIN

An Gleis 16 ist jetzt kein Platz für Politik. Da stehen Corinna Lange* und Farid einfach nur, reden miteinander und warten auf den Regionalzug nach Köln. Sie, die in Israel Geborene mit dem Piercing in der Nase, parliert in singendem Timbre und lacht; er, ein im Iran geborener Handwerker aus Köln, nickt stumm und steckt sich eine Zigarette an. An diesem Freitagabend am Düsseldorfer Hauptbahnhof ist die Feindschaft zwischen ihren Herkunftsländern kein Thema. Die beiden sind einfach Fremde, die sich – freundlich gesinnt – zu einer Fahrgemeinschaft zusammen geschlossen haben. Farid fährt auf Langes Ticket.

Für das, was Corinna Lange Abend für Abend tut, gibt es keinen Namen. „Taxidienst auf Schienen“ mögen es manche nennen, andere hingegen „Zug-Mitfahrgelegenheit“. Scheckkartengroße Monatstickets für die Verkehrsverbunde Rhein-Sieg und Rhein-Ruhr hängen in einem kleinen Ledertäschchen um Langes Hals, auf jeder kann sie – so erlauben es die Tarifbestimmungen der Verkehrsverbunde – ab 19 Uhr gratis eine zweite Person mitnehmen. Jeden Abend steht die Sechzigjährige deshalb am Düsseldorfer Hauptbahnhof, in der Nähe der Ticketautomaten und spricht Menschen an, bevor sie sich eine Fahrkarte kaufen. „Wohin fahren Sie?“ Nach Essen, nach Aachen, nach Mülheim – antworten die Leute. „Ich kann Sie mitnehmen“, sagt Lange dann und fährt mit ihnen in die Stadt ihrer Wahl – für eine Spende, für ein Trinkgeld.

Die Mitfahroption soll ein kleines Dankeschön der Verkehrsverbunde an ihre Kunden sein, Lange begreift sie als Chance. Sie braucht das Geld, das ihr die Leute am Ende der Fahrt geben. Sie ist Witwe, ihr Taxidienst auf Schienen eine Notlösung, ein Zubrot zur Rente.

21.40 Uhr, an Gleis 16 fährt der Zug ein. Corinna Lange knöpft sich ihre schwarze Jacke auf, schüttelt die braunen langen Haare, kaut auf dem Kaugummi – ungeduldig. Endlich hält der Zug, die beiden steigen ein, setzen sich gegenüber.

Die Smalltalk-Künstlerin

Lange braucht das Geld, aber sie braucht auch Menschen wie Farid. „Ich glaube, ich suche manchmal nur jemanden zum Reden“, sagt sie. Sie ist eine Smalltalk-Künstlerin. Das Wetter, die aktuellen Unglücke, das aktuelle Glück – sie kennt es. Mit Wildfremden plaudert sie über Telefonanbieter und Politik, Haarwäsche und Ehekrisen. Vom Einstieg bis zum Ausstieg, ununterbrochen. Sie schweigt nur, wenn ihr Gast auch mal was sagen will. Reden als Katharsis.

Weil Corinna Lange ist, wie sie ist, kennen viele sie und sie kennt viele: die Verkäuferinnen in den Läden, die Obdachlosen an den Gleisen. „Ich bin die Königin der Züge“, sagt sie und lacht.

Wer mit ihr fährt, erfährt viel von ihr, von ihrem Leben, das einer langen Reise gleicht. Farid erzählt sie es auf der Fahrt nach Köln. Oder zumindest das, was die Tochter eines Österreichers und einer Australierin, die sich im Kibbuz kennenlernten, in 25 Minuten erzählen kann.

Ein Nomadenleben

Im November 1978 verlässt Corinna Lange die Stadt Tiberias am See Genezareth, wo sie aufwuchs. Die ewigen Streits mit ihrer Mutter um das Kind, um Geld, um die abgebrochene Lehre zur Friseurin, um falsche Männer. Sie flüchtet mit ihrem Sohn vor den Problemen. Sie flüchtet nach Deutschland. In Frankfurt hält sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und lernt einen Mann kennen. Die beiden heiraten, Lange bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung. Doch anstatt sesshaft zu werden, geht die Reise weiter: Rückkehr nach Israel, Leben in leeren Läden oder Gartenhäuschen, dann wieder Deutschland, Notunterkunft, jahrelanges Pendeln zwischen Gelegenheitsjobs und Arbeitslosigkeit, dazu die Ehestreits, die Scheidung. „Aber ich habe ihn wirklich geliebt“, sagt sie. Bald findet sie einen anderen Mann und heiratet wieder. „Mein zweiter Mann war fleißig und liebevoll, er hat sogar Sammy* adoptiert“, erzählt Corinna Lange. 2004 stirbt er an Krebs. Ihr bleibt eine Witwenrente. Siebenhundert Euro im Monat. Nicht genug für Miete, Essen, Krankenkasse im teuren Düsseldorf. Denn auch ihr Sohn tut sich schwer, einen Ort zu finden, wo er ankommen kann. Seit drei Jahren ist er arbeitslos, er wohnt bei seiner Mutter. 37 Jahre ist er.

Als der RE1 mit Farid und Lange um 22.14 Uhr in Köln einfährt, ist am Hauptbahnhof noch immer viel los. Menschen drängen sich durch die Bahnhofshalle zur U-Bahn-Station, zu Taxen, zu Bussen, zum Dom. Grölende Fußballfans, Reisende mit Rollkoffern, Männer mit Aktentaschen, Frauen auf hohen Absätzen, Bier, Schweiß, süßes Parfüm.

Lange verabschiedet sich von ihrem Fahrgast und geht zielstrebig zu den Ticketautomaten. „Ich kann Sie auf meiner Monatskarte mitnehmen. Wollen Sie mit mir fahren?“, spricht sie einen älteren Mann an, der sich gerade eine Fahrkarte löst. Er mustert sie – die zerwühlten Haare, das Piercing, die pink geschminkten Lippen. Stummes Kopfschütteln. Corinna Lange stört sich daran nicht. „Wenn mir alle vertrauen würden, wäre ich wahrscheinlich Millionärin“, scherzt sie nur und fragt weiter. Frauen und Männer, Geschäftsleute und Studenten, jung und alt, europäisch und asiatisch, traurig, glücklich. Erfolglos. Corinna Lange zählt das Geld, das ihr die drei Leute, die sie an diesem Abend begleitete, gegeben haben: 25 Euro. „Schon mal was.“

Kurz vor 23 Uhr nähert sich doch noch ein vierter Reisender. Ein junger Lehrer aus Paderborn schleppt mit Schweißperlen auf der Stirn seinen Koffer heran. Gerade hat er Lange noch weggeschickt, nun möchte er doch mit ihr nach Dortmund. Eine Stunde und zwanzig Minuten, über die Hohenzollernbrücke, vorbei am Leverkusener Bayer-Kreuz, dem Düsseldorfer Flughafen, der Industriekultur im Ruhrgebiet. Arbeitsalltag entlang der Zugstrecke von Köln nach Dortmund. Man sieht es nicht in der Dunkelheit, aber man weiß, dass es da ist. Das Thema, über das Lange mit dem Mann redet: eine Auswanderer-Reportage im Fernsehen, verbunden mit ihren eigenen Erinnerungen an Frankfurt 1978. Ein Betrunkener setzt sich neben die beiden und pöbelt lautstark gegen die Deutsche Bahn. „Benimm dich“, ermahnt sie den Unbekannten und zeigt ihm auf ihrem Handy Fotos von ihrem Sohn und ihrem Hund. Der Betrunkene beugt sich nach vorne und verstummt. Der Lehrer schmunzelt.

Fremde im Zug

0.15 Uhr, früher Samstagmorgen am Dortmunder Hauptbahnhof. Corinna Lange verabschiedet sich. Zehn Euro schenkt ihr der Fremde, mit dem sie gerade eine Zugfahrt lang zusammen war.

Feierabend ist, wenn die letzte Bahn nach Hause fährt. „Erstmal schlafe ich morgen aus und frühstücke mit Sammy“, sagt sie. Wenige Stunden zuvor hat ihr Sohn einen Vertrag bei einem Sicherheitsdienst unterschrieben. Erleichterung nach drei quälenden Jahren auf Hartz IV. „Endlich hat er wieder Arbeit“, sagt Lange. „Heute bin ich die glücklichste Mutter der Welt.“

*Namen geändert