Dirigent verschleppt: Hinterm Zaun
Der Bremerhavener Dirigent Rodolfo Cázares ist seit Juli entführt: Maskierte haben den 35-Jährigen aus seinem Elternhaus in Matamoros in Nordost-Mexiko geholt.
BREMEN taz |Sie haben ihn verschleppt. Seit mehr als 200 Tagen ist der Dirigent Rodolfo Cázares in der Hand seiner Entführer. Das letzte Lebenszeichen stammt von Ende Juli. Der 35-jährige Musiker, seit 2008 am Bremerhavener Stadttheater als Solo-Korrepetitor angestellt, war im Sommer zu Hause gewesen, bei seiner Familie, wie jedes Jahr - die Geschwister wiedersehen, die Nichten, Neffen und die Eltern. Cázares stammt aus Matamoros, einer Stadt im Bundesstaat Tamaulipas, im äußersten Nordosten Mexikos. Als in der Nacht zum 9. Juli acht Maskierte mit Waffen das Haus stürmen, schlafen dort 18 Menschen.
Nach zwei Tagen werden die meisten von ihnen freigelassen, "alle Frauen und Kinder", sagt Ludivine Barbier-Cázares, die Frau von Rodolfo. Ein entfernter Verwandter sei kontaktiert worden. Die Entführer zitierten ihn zu einem Supermarkt, in der Nacht. Am Treffpunkt schmissen sie die 14 Gefesselten aus dem Transporter. Mit einem Händedruck hat sich Ludivine Barbier-Cázares noch von ihrem Mann verabschiedet, bevor sie ging. Vier Mal gab es seither Lösegeld-Forderungen, vier Mal hat man gezahlt, insgesamt war es eine fünfstellige Summe, die letzte Übergabe war Ende Juli. Seither haben sich die Geiselnehmer nicht mehr gemeldet.
Matamoros liegt eingebetet in den Schleifen des Río Bravo. Drüben, in Brownsville, Texas, heißt er Rio Grande. Kaum knietief strömt das Wasser - kein echtes Hindernis. Der US Congress hatte deshalb vor fünf Jahren beschlossen, die Grenzbefestigungen auch hier noch auszubauen. Seither sind 15 Meilen Sicherheitszaun gebaut worden, El muro nennen sie ihn Mexico. Sicherheit hat er nirgends gebracht, erst recht nicht im Süden: Zwar hat sich, laut dem Jahresbericht der Sicherheitsfirma Strafor im berüchtigten Ciudad Juarez die Zahl der Morde 2011 auf knapp 1.500 halbiert. Das heißt aber nicht, dass die Gewalt entlang der Grenze abgenommen hätte. Sie hat sich verlagert, gen Osten, nach Matamoros, der zweitgrößten Stadt von Tamaulipas. Es geht um die Vormacht im Drogenschmuggel, heißt es im Strafor-Rapport. Jede und jeder kann zwischen die Fronten geraten. Wer stört, stirbt. Wer auffällt, wird bedroht, entführt und erpresst.
Tamaulipas ähnele einem Failed State, stellte der mexikanische Politologe Alfonso Zarate vergangenes Frühjahr fest: Die offiziellen Stellen seien "außer Stande, das Recht aufrechtzuerhalten", sagte er in der Los Angeles Times. Aber auf die staatlichen Stellen muss Ludivine Barbier-Cázares setzen, und auf öffentliche Anteilnahme: Nachdem die Entführer aufgehört hatten, Geld zu fordern, war die Angst noch größer geworden: Was war schief gelaufen? Hatte man die Verbrecher verärgert? Man hielt still.
Barbier-Cázares hält Kontakt nach Mexico, über die Schwägerin. Sie zieht zu ihren Eltern, nach Frankreich: Im Haus in Bremerhaven erinnert ja alles an ihren Mann, der leere Flügel, die Bekannten, die Fragen stellen. Dass er weg bleibt, fällt nicht vielen auf: Klar, die Leute vom Orchester, die wissen Bescheid, die Theater-Intendanz auch. Aber sie halten dicht, und es spricht sich nicht rum: Ein Korrepetitor nimmt mit den SängerInnen und Solo-InstrumentalistInnen ihre Stimmen durch, das ist kein sehr öffentlichkeitswirksamer Job, der Mann ist kein Promi: Selbst die Theaterhomepage nennt ihn bis heute "Rudolfo" und schreibt den Nachnamen mit "s". Nur bei zwei Musical-Produktionen ist er bisher als Orchester-Leiter aufgetreten, Jules Stynes "Sugar", vor zwei Jahren und, vergangene Spielzeit, bei Leonard Bernsteins erstem Musical. Die Aufführung galt eher als Reinfall. "Immerhin glänzt ,On The Town' musikalisch", heißt es im liebevoll ausführlichen Verriss des Fach-Portals musicalzentrale.de. Cázares nämlich entlocke den Musikern des Stadtorchesters "samtenen Walzer", vor allem aber "einen satt-eleganten Swingsound und viele jazzige Töne mit schrägen Harmonien". Es ist der Anfang einer Karriere.
Jetzt will Barbier-Cázares politischen Druck machen, "was kann ich denn sonst tun?", fragt sie, "einfach nur warten?". Es ist eine Wellenbewegung. Als im Oktober das FBI einen von der Bande in den USA aufgreift, wächst neue Hoffnung. Doch die Verhöre erbringen keinerlei Hinweise. Barbier-Cázares schreibt an Barack Obama. Schließlich haben unter ihm die USA angefangen, sich mitverantwortlich fürs Problem zu fühlen. Und immerhin, der Gouverneur will sich für ihr Anliegen einsetzen. Barbier-Cázares hat sich an die Kirche gewandt, an den Richard Wagner-Verein, dessen Stipendiat ihr Mann ist, sie hat sich beim mexikanischen Präsidenten beschwert und den Gouverneur kontaktiert. Sie hat Frankreichs Regierung um Hilfe gebeten, und die Botschaft in Mexico: Im engeren Sinn intervenieren kann die, sagt sie, nicht. Rodolfo Cázares ist schließlich Mexikaner. Aber informelle Hilfe haben die Diplomaten versprochen: Jetzt zum Beispiel sind zwei der Entführer in Matamoros festgenommen worden. Bislang haben die Verhöre keinen Aufschluss gebracht über den Verbleib der Geiseln. Der französische Konsul soll beim Staatsanwalt nachhaken. Noch hat Barbier-Cázares nichts Neues gehört.
Mittlerweile ist sie pleite. Mexicos Superreiche leben ganz im Westen, Baja California. Die Familie ihres Mannes gehört nicht dazu, das ist klassischer Mittelstand - ein örtliches Bauunternehmen. Und Barbier-Cázares selbst ist Übersetzerin, auch kein Job, in dem viel zu holen ist. Aber viel Ruhe braucht er, und einen freien Kopf, und Zeit auch für die Auftrags-Akquise.
Seit sie den Fall öffentlich gemacht hat, gibt es immerhin Solidaritäts-Aktionen: Der Orchestervorstand sammelt Spenden, die Lokalzeitung hat einen Aufruf veröffentlicht, fast 3.000 Euro hat man zusammen, bisher. Das Medien-Interesse wächst, gestern hat sie eine Pressekonferenz gegeben, im Theater, kommende Woche will sie sich an französische JournalistInnen wenden. "Vielleicht", sagt Ludivine Barbier-Cázares, "dass es, wenn diese vielen Leute aus vielen Ländern zusammen sind, Druck macht auf die Entführer", immerhin sei das doch möglich. "Ich weiß natürlich", sagt sie, "das das utopisch ist".
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