Berlin-Buch: Mal sehen, was im Dschungel lief
Wir steh'n auf Berlin - aber fühlen uns nicht mehr so gut. In seinem Roman „Gutgeschriebene Verluste“ erzählt Bernd Cailloux von der großen New-Wave-Zeit.
„Leiser sah auf dem Heimweg einmal mit fernglasigem Blick sehr weit nach vorn: Wenn du dich in späteren Jahren mal an die von dir bejammerten Abende wie den heutigen erinnerst, wirst du sagen, das war sie, die große Zeit.“
So steht es auf Seite 39. Schon 18 Seiten davor aber ist dieser Satz in Frage gestellt worden: „Die große Zeit – Ende der Siebziger, Anfang achtzig in Berlin? Glaubte Leiser das wirklich? Könnte das nicht bereits zehn Jahre früher der Fall gewesen sein? Um achtundsechzig herum, war er dreizehn oder vierzehn und noch zu Hause in einer kleinen Stadt … während von mir anderswo dies und das mitgegründet wurde.“
Der so spricht, ist der Ich-Erzähler von Bernd Cailloux’ Roman „Gutgeschriebene Verluste“, den wir getrost Bernd Cailloux nennen dürfen. Nicht umsonst heißt die vollständige Gattungsbezeichnung „Roman mémoire“, und was vom Ich-Erzähler anderswo (in Düsseldorf und Hamburg) damals so mitgegründet wurde, ließ sich vor sieben Jahren in Cailloux‘ Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ nachlesen, in dem der Achtundsechziger nicht als Revolutionär, sondern als Start-up-Unternehmer gezeigt wurde: ein Roman, von der Kritik zu Recht unisono gefeiert ob seines Lakonismus und seiner Ironie.
Was war größer? 1968?
Man sollte Cailloux’ neuen Roman tunlichst nicht als Fortschreibung lesen, weil solche Lektüre immer den Blick verengt. Eher könnte man ihn in die Rubrik „Variationen zu einem Thema“ einreihen, aber auch damit machte man es sich etwas zu einfach.
Die beiden oben gegeneinander geschnittenen Zitate verweisen schon auf das Dilemma, das die Lektüre von Cailloux’ Roman zu einer melancholischen und zuweilen auch depressiven Angelegenheit macht. Denn es ist schwer, wirklich zu trauern (und vielleicht irgendwann damit aufzuhören), wenn man nicht genau zu sagen weiß, was man eigentlich verloren hat. Was war größer? 1968? Oder die New-Wave-Zeit Anfang der Achtziger im Mauer-Berlin, damals im Café Mitropa in der Goltzstraße oder im Dschungel in der Nürnberger Straße? („Mal sehen, was im Dschungel läuft“, wie Annette Humpe im Jahr 1980 sang, um uns mitzuteilen, dass sie sich gut fühlte und auf Berlin stand.)
Leiser, dem wir den ersten Satz verdanken, ist ein erfolgreicher Autorenkollege des Ich-Erzählers, längst mit Familie an den Stadtrand gezogen, und in diesem Buch gleichsam die Kontrollinstanz, auch der Spiegel: Das also kann aus einem werden, wenn man sein Leben nicht verplempert. Der Ich-Erzähler dagegen hockt noch immer im Café Fler in der Potsdamer Straße, dem „Café der Übriggebliebenen“, wie gleich zu Beginn des Buches Leisers Freundin feststellt. (Leiser hat zwei Frauen, eine, die mit ihm verheiratet ist, und eine Geliebte. Erfolgreiche Autoren sind vielleicht so.)
Undeutlich Verlorenes
Unter dem Bann dieses Fremdurteils, zu den Übriggebliebenen zu gehören, nimmt der Erzähler seine Arbeit auf. Dass er nicht einmal genau weiß, wovon er übrig geblieben ist, macht ihn zum Melancholiker, denn die Melancholie heftet sich, wie wir von Freud wissen, an ein Verlorenes, das ihr selbst nicht wirklich deutlich ist, anders gesagt: Sie weiß nicht genau, worum sie zu trauern versucht.
Entsprechend greift dieser Roman mémoire in verschiedenste Richtungen aus. Strukturlos ist er nicht; er weigert sich aber, den Gesetzen des gut erzählten Romans als Sinnmaschine zu folgen, wie er immer noch und immer wieder von Lesern wie Kritik goutiert wird. Seine Struktur folgt den Regeln der Autofiktion, und das macht seine Stärken ebenso wie seine Schwächen aus.
Dass in einem Roman mémoire alle Erzählstränge sich mit dem Vergangenen und damit der Erinnerung befassen, liegt auf der Hand. Cailloux organisiert seinen Text dankenswerterweise nicht linear, und wir bekommen hier also zum Glück von einem 1945 geborenen Autor nicht noch einmal, möglichst filmreif aufgepeppt, eine weitere Version der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, ihrer alternativen Bewegungen, ihres Undergrounds und ihrer Schreckensmomente und Nischen, obwohl das alles da ist.
Die Tristesse der milchkaffeebraunen Altbauten
Erzählung und Reflexion durchdringen sich, und manchmal nimmt die Reflexion überhand, was dem Buch nicht guttut, doch dazu später. Zuweilen greifen die Erzählstränge und die erzählten Zeiten ineinander, was in der Regel gut gelingt und schlüssig ist.
Es gibt hübsche, genaue Beobachtungen. Das Wesen der Mauerstadt Westberlin erfasst Cailloux auf einer einzigen Seite zuerst ästhetisch, dann soziologisch. Nach jeder Rückkehr aus Westdeutschland braucht es einen Moment, aber dann „wusste ich wieder, dass die Pracht West-Berlins nur rudimentär vorhanden und in Teilen schwer lädiert, wenn nicht verschüttet war. Die Tristesse der milchkaffeebraunen Altbauten, der angeschossenen Brandmauern fiel stärker als anderes ins Auge – in Waschbetonkübeln vertrockneten Krokusse, wie gepflanzt für Künstlerfotos in Schwarzweiß.“
Ja, so war das, und eben, soziologisch betrachtet, auch so: „Einladend auch, dass es im Westteil keine strikt hierarchisierte Gesellschaft mehr zu geben schien, weil sich das geschäftswillige Bürgertum spätestens seit dem Mauerbau verdünnisiert hatte und Platz machte – für Studenten, Künstlerkandidaten, Lebenshungrige und auch für mich.“ Und das Ganze wird dann fünfzehn Seiten weiter auf den Punkt gebracht: „… das Schöne in Westberliner Zeiten war ja, dass man sich um Ostberlin nicht kümmern musste.“
Die Spielzeit 78/79
Das sind Beobachtungen aus der „Spielzeit 78/79“, um Cailloux selbst zu zitieren, der damit natürlich seinerseits den Titel seines ersten Romans paraphrasiert. Der Ich-Erzähler lebt da erst ein paar Jahre in Westberlin, nach dem Ende seiner Düsseldorfer und Hamburger Unternehmerjahre, sieht dem schnell wachsenden Ruhm der Neuen Wilden zu und geht abends in den „Dschungel“, wo es „stets diese beiden Hauptgruppen“ gibt: „die nächtlichen Erzähler und die Tänzer, die Dichotomie eines voll im Saft stehenden Szenevolks – immer dabei auch eine in den handlungsarmen Ecken der Diskos diskutierende Hegel- und Heidegger-Runde, das passte.“ Also wohl doch die große Zeit, diese späten Siebziger, frühen Achtziger, irgendwo zwischen Schöneberg und Moritzplatz: Leiser scheint recht zu behalten.
Das Heute jedenfalls kann da nicht mithalten. Denn im Heute lernt der Erzähler Ella kennen, eben in diesem Café der Übriggebliebenen, mit der er ein geschätztes Jahr verbringen wird. So genau lässt sich das nicht sagen, denn dies ist die farbloseste und uninteressanteste Liebes-, nein Beziehungsgeschichte, die ich seit Langem gelesen habe, und sie zieht sich durch den Großteil des Buches. Das plätschert zäh vor sich hin.
Cailloux analysiert dieses Verhältnis zwischen zwei Menschen, die eigentlich überhaupt nicht zueinander passen (was dem Leser ganz schnell klar ist) tatsächlich so ausführlich und langatmig, als befänden wir uns in den endlosen Beziehungsgesprächen der Siebziger.
Blasse Schimäre
Was er da tut, kommentiert er sogar an einer Stelle – unfreiwillig? – selbst: „Konnte man sich alles im Bildungsfernsehen der hinteren Kanäle ankucken, die Probleme der Bindungsfähigkeit, die Konflikte zwischen den verschiedenen Hirnteilen, einer hat Hunger, der andere sorgt sich ums Dickwerden, ein Haufen Neuronen will Liebe. Der andere lieber das Selbst davor schützen …“ Dabei bleibt Ella blass, eine Schimäre: Wenn sie auf Seite 262 endlich für immer gegangen ist, wissen wir nicht mehr über sie als auf Seite 48, wo sie das erste Mal auftaucht.
Mit Ella fährt der Erzähler einmal nach Erfurt, in seine Geburtsstadt, zum ersten Mal in seinem Leben, zur alten Frau Richter, die die Eltern noch im Krieg als Flüchtlinge aufgenommen hat. Er erfährt dort sehr viel über sich und seine Familie, die Trennung seiner Eltern, Denunziationsvorwürfe noch in der Nazizeit, was er bisher nicht wissen wollte: denn ein Familienmensch ist er nicht und will es auch nicht werden (im Gegensatz zu Ella, natürlich).
Diese Passage gehört zu den beiden stärksten des Buches, auch die Sprache ist dort konzentrierter und genauer als in anderen Teilen, in denen sich so unmögliche Wörter wie „verunmöglichen“ tummeln. Da wird der Erzähler gewissermaßen mit einer frühen Kindheit ausgestattet, und darüber staunt er.
In der zweiten sehr starken Passage geht es um Erinnerungskultur, genauer: um das Reden über 1968 und die Folgen. Eine öffentliche Veranstaltung, Schweizer Seite des Bodensees, der Erzähler ist als Alt-Hippie geladen, zwei Professorinnen sind dabei, ein alter SDS-Kader und andere, aber der Stargast ist natürlich ein ehemaliger RAF-Terrorist, der nun schon seit Jahren durch die Talkshows tingelt.
Das sind schulbuchreife 28 Seiten, wie Cailloux da die 68er-Erinnerungskultur inszeniert, und da gewinnt er auch die ironische Ebene aus dem Vorgängerroman wieder, die ansonsten in diesem Buch oft fehlt. Denn Ella, die langweilige Ella, hat schon fast recht, wenn sie sagt: „Du bist einfach immer nur negativ.“
Aber nur fast. Cailloux’ Buch handelt von jenen Verlusten, die dem Melancholiker undeutlich oder unbekannt bleiben und die deshalb, dem Titel zum Trotz, am Ende nicht auf der Habenseite der Bilanz auftauchen. „Geschichten vom unbekannten Verlust“ hat Helmut Lethen einmal eine Sammelrezension von vier Romanen überschrieben, die alle mehr oder weniger um die Vorgeschichte oder die Folgen von 1968 kreisten. Das ist allerdings lange her: Der Text ist im Oktoberheft 1979 des Merkur erschienen. Cailloux’ Roman mémoire hätte sich da nahtlos eingereiht.
■ Bernd Cailloux: „Gutgeschriebene Verluste“. Suhrkamp, Berlin 2012, 271 Seiten, 21,95 Euro
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