die Wahrheit: Krieg mit voller Blase
Die Tötung von sechzehn afghanischen Zivilisten durch einen US-Soldaten wirft viele Fragen auf.
Die Tötung von sechzehn afghanischen Zivilisten durch einen US-Soldaten wirft viele Fragen auf. Während Präsident Barack Obama unverzüglich sechzehnmal den für solche Fälle installierten Sorry-Button auf der Website des Weißen Hauses angeklickt hat, fragen sich hierzulande viele Menschen: Könnte auch ein Bundeswehrsoldat Opfer widriger Umstände werden und nachts in mehrere Häuser eindringen, um die Bewohner im Schlaf zu erschießen?
Hauke Friebel, der interkulturelle Ombudsmann im Bundeswehrcamp in Kundus, hält das für ausgeschlossen: „Wir arbeiten intensiv daran, dass es nicht zu Missverständnissen mit der heimischen Bevölkerung kommt.“
Die begleitende Schulung beginnt mit der Ankunft am Hindukusch, und gerade in den ersten Tagen gibt es viel Aufklärungs- und Diskussionsbedarf. „Wenn wir den Neuen sagen, dass es der Afghane nicht mag, dass auf seine Leichen uriniert wird, gibt es natürlich erst einmal erstaunte Gesichter und viele Nachfragen.“ Kein Wunder, ist das sogenannte Ausbrunzen der gegnerischen Toten doch ein ritueller Brauch, der bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges vielfach belegt ist.
Angeblich soll es an der Brücke von Torgau auch ein Wettpissen zwischen Amerikanern und Sowjets gegeben haben, bevor die Erinnerungsfotos geschossen wurden. Ebenso wie Reformation, perspektivische Malerei und Mülltrennung gehört das gemeinsame Urinieren nach vollbrachter Großtat zu den Selbstverständlichkeiten in der kulturellen Erfolgsgeschichte des Westens. „Und wenn wir die Leute hier für uns gewinnen wollen, dann müssen wir sie mit ihren Ängsten und Vorstellungen ernst nehmen, auch wenn die Blase drückt“, meint Friebel.
Das in den letzten Wochen so böswillig aufgebauschte Phänomen der Koranverbrennungen ist ein weiteres Konfliktfeld, für das Hauptmann Friebel Handlungsbedarf sieht. „Selbst wenn es in den Fingern juckt, bei uns macht das keiner.“ Von Haus aus ist es praktisch allen Deutschen völlig fremd, religiöse Bücher zu respektieren. „Seien wir doch mal ehrlich. Wenn Sie im Sommer auf einer Grillparty in Fulda oder Köln eingeladen sind, was liegt da auf dem Gartentisch: das Lukasevangelium, weil Dünndruckbibeln als Grillanzünder unübertroffen sind.“
Jeder Festivalbesucher der Republik weiß: Wo das Dixi-Klo steht, ist die Apostelgeschichte nicht weit. Wie anders ist doch das Verhältnis zur Religion in der von Rückständigkeit und Archaik geprägten Welt am Hindukusch. „Klar, weil sich alles um die Religion dreht, rastet der Afghane halt schneller aus als wir. Über Jesus am Kreuz als Flaschenöffner lacht die ganze Diözese“, erklärt Friebel. „Aber die Leute hier im Land haben ja buchstäblich nichts: keine Aufklärung, keine Säkularisierung, keine Flaschenöffner.“
Als wir ihn auf das Foto ansprechen, das einen Bundeswehrsoldaten zeigt, der seinen Penis in die Augenhöhle eines Totenschädels steckt, runzelt Friebel die Stirn. „Auch so eine Sache, die völlig verzerrt dargestellt wurde. Wir begrüßen es natürlich, wenn die Soldaten in ihrer Freizeit kulturell aktiv werden und, wie in diesem Fall, Hamlet inszenieren. Aber hier finden die Leute nicht so leicht den Zugang zu Shakespeare. Hamlet ist vom gemeinen Paschtunen so weit weg wie die Berliner Volksbühne von Kabul.“
Friebel weiß, dass dieser Weg der behutsamen vertrauensbildenden Maßnahmen der schwierigere ist: „Es ist völlig übertrieben, ein ganzes Dorf niederzumachen, nur wenn mal ein Gurkenglas im Buntglascontainer liegt“. Während wir im Schulungszelt sitzen, präsentiert der junge Hauptmann aus Borken Fotos von den rundlichen deutschen Glascontainern, die von der Bundeswehr in ganz Afghanistan aufgestellt wurden, die leider aber von den Taliban gern für Sprengfallen genutzt werden.
„Dann schreibt ein neunmalkluger Journalist gleich wieder, die Afghanistanmission stehe kurz vor dem Scheitern.“ Dabei ist ein Mentalitätswandel auf breiter Front unübersehbar und unumkehrbar: „In den meisten Regionen ist die Steinigung praktisch ausgestorben.“ Er zeigt auf eine Landkarte mit schraffierten Flächen. Stattdessen gibt es immer häufiger Flaschenigungen zu beobachten. „Anfangs mussten wir dafür sorgen, dass die Scherben hinterher im richtigen Container liegen“, unterstreicht Friebel. „Heute macht das jeder Dorfbewohner ganz selbstständig.“
Der nächste Schritt wird sein, der afghanischen Bevölkerung beizubringen, dass die mit Sand gefüllten Pet-Flaschen bei mehr als nur einer Flaschenigung verwendet werden können. Das findet sogar bei den Taliban Zustimmung. Okzident trifft Orient. Modernes Umweltbewusstsein findet seinen Platz in einer Jahrtausende alten kulturellen Praxis. Es ist ein Geduldsspiel, aber nur so lässt sich nachhaltig Vertrauen gewinnen.
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