Deutsche Hochschulen in der Zwickmühle

Endlich passiert, worauf alle Demografen und Wirtschaftsforscher hoffen: Die jungen Leute machen ihre Studienwünsche wahr. Auch in den kommenden 10 Jahren. Die Länder aber bauen ihre Kapazitäten nicht etwa aus – sie versuchen sie dichter auszulasten. Fächerfusion heißt das Mittel in Nord und Süd

Die Rektoren fordern, sofort 8.000 Professoren einzustellen, um der Studentennachfrage Herr zu werden

VON MIRJAM MEINHARDT

Der Hörsaal ist bis auf den letzten Stuhl besetzt, einige sitzen auf dem Boden. Die Vorlesung beginnt erst in zehn Minuten, aber selbst mitgebrachte Stühle aus dem Nachbarraum finden kein freies Plätzchen mehr. Aus taktischen Gründen gehen ganz schlaue Studierende früher aus der Statistik-Übung – um wenigstens noch einen Platz mit Sicht zu ergattern. Alltag an deutschen Hochschulen.

Die Bibliotheken sind leer geliehen. Studienrelevante Bücher wird sich der engagierte BWLer selber kaufen. Sicher gibt es Unis, an denen es anders ist. Es gibt Fachbereiche, die mit Hilfe des Numerus clausus die Studiennachfrage künstlich drosseln. So jedoch lässt sich das Problem nicht lösen. Die gute Nachricht: Es kommt noch besser.

Im Jahr 2014 werden in Deutschland knapp 2,7 Millionen Studenten an den Universitäten eingeschrieben sein. Heute sind es etwa 2 Millionen – eine Steigerung um über 25 Prozent. Wenn 2012 die Schulzeit von bisher 13 auf dann 12 Jahre verkürzt ist, klopfen sogar doppelt so viele Erstsemester auf einen Schlag an die Tore der Universitäten. Erst ab 2020 werden es wieder weniger. Dann wirkt sich die sinkende Geburtenrate aus.

Die Begriffe dafür heißen Studentenschwemme oder Studentenberg. Und das, obwohl das Land dringend mehr Hochschulabsolventen braucht. Von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft wird ständig gefordert, die Studierendenzahlen müssten sich erhöhen. Und das tun sie jetzt auch. Entscheidend ist, dass sich tatsächlich mehr Schüler dafür entscheiden, ihre Studienabsichten wahrzumachen – genau das, was alle Demografen sich wünschen. Die schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sind das Hauptmotiv für den Gang an die Uni. Das sagen befragte Studierende.

Im OECD-Vergleich bringt das Land der Dichter und Denker allerdings immer noch viel zu wenige Akademiker pro Jahrgang hervor. Hierzulande studieren etwa 37 Prozent. Das sind 13 Prozentpunkte weniger eines Jahrgangs als in anderen Industrieländern. Die OECD empfiehlt eine Studierendenquote von bis zu 50 Prozent. Schlimmer noch für Deutschland: Nur 19 Prozent der Studierenden schaffen es, sich durch den Uni-Dschungel bis zum Examen durchzuschlagen. Viele meinen: Es fehlen Dozenten, die den Weg weisen.

Auf der einen Seite steht die erhoffte Studiennachfrage, ein erwarteter Studentenberg mit zu geringen Lehrkapazitäten; und auf der anderen Seite zu wenig Hochschulabsolventen. Das passt nicht zusammen.

Die geplante Föderalismusreform wird das Problem nicht lösen. Die Bundesländer können ihre Hochschulen allein nicht finanzieren. Schon jetzt sind sie mit drei bis vier Milliarden Euro unterfinanziert.

Die Länder versuchen, so die Auskunft, die erwartbare Krise anzugehen. Bayern etwa hat ein „Innovationsbündnis 2008“ geschlossen. Sonderbarerweise verpflichten sich darin die Hochschulen, enger zu kooperieren – und Fachbereiche und Institute universitätsübergreifend zusammenzulegen. Die Dozenten sollen zudem eine Semesterwochenstunde länger lehren. Das sind die altbekannten Methoden, um Studentenberge zu bewältigen – dichtere Auslastung und Mehrarbeit für die Lehrenden. Das Land verspricht dafür im Gegenzug generös finanzielle Planungssicherheit.

Im laufenden Universitätsjahr 2005/2006 soll der Haushalt der bayerischen Unis sogar um 7,2 Prozent steigen. Unterm Strich bedeutet das dennoch, dass Bayerns Wissenschaftsminister Thomas Goppel (CSU) nur kosmetische Korrekturen vornimmt. Ein entschiedenes Umsteuern durch Einstellung von Professoren ist nicht vorgesehen. „Umschichten“ lautet das Rezept aus Bayern. Mehr und ausreichend finanzierte Studienplätze entstehen dadurch nicht.

Der hohe Norden geht ähnlich sparsame Wege – obwohl dort das erste Ministerium für Wissenschaft und Wirtschaft residiert, der Amtsinhaber Dietrich Austermann (CDU) also wissen sollte, dass nur eine deutliche Ausweitung der Studierendenquote verhindern würde, dass Deutschland dümmer wird.

Auch Austermann will Kapazitäten besser auslasten. Um dies reibungslos organisieren zu können plant er, eine Landesuni zu gründen – will sagen: die bestehenden Hochschulen virtuell zusammenzuführen. Sprecher Harald Haase bestätigt: Das Ministerium will durch den Abbau von Überkapazitäten Geld sparen. Gleichzeitige Bachelor- und Masterstudiengänge werden als Mehrfachangebote beseitigt. Ziel sei aber auf jeden Fall, so die paradoxe Perspektive Haases, die Kapazitäten auszubauen.

Der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ist inzwischen der Kragen geplatzt. Sie fordert die sofortige Neueinstellung von 8.000 Professoren – als Vorgriff für jene Lehrstühle, die ab 2015 sukzessive frei werden. Der Bund, so HRK-Generalsekretärin Christiane Ebel-Gabriel, müsse sich unbedingt an der Finanzierung der neuen Stellen beteiligen. Das allerdings ist streng genommen unter den derzeitigen Plänen für die Föderalismusreform nicht vereinbar. Danach soll sich der Bund von der Hochschulpolitik komplett verabschieden.

Der Numerus clausus besteht bereits, bietet aber ebenfalls keinen Ausweg aus der Misere. Wenn sich weniger Menschen ein Studium leisten können, werden zwar weniger Plätze nachgefragt werden. Chancengleichheit im Bildungssystem und mehr Hochschulabsolventen – erklärte Ziele der Hochschulpolitik – werden so allerdings nicht erreicht. Wenn die Politik sich diesen Zielen nähern will, bleibt nur: Geld zur Verfügung zu stellen und die Hochschulen langfristig solide zu finanzieren.

In den späten Siebzigerjahren gab es das schon mal an den Hochschulen. Damals wurde das Problem „untertunnelt“. Das hieß: Die Universitäten wurden mit den Studenten einfach allein gelassen.