„Die Sexualität hat sich aus dem Schatten von Aids befreit“

Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker warnt vor einer moralischen Verurteilung der neu mit HIV Infizierten

INTERVIEW: JAN FEDDERSEN

taz: Herr Dannecker, machen Sie die HIV-Neuinfektionszahlen unruhig?

Martin Dannecker: Nein.

Welche Schlüsse möchten Sie aus diesen Zahlen ziehen?

Ich bin, im Gegensatz zu allen Kommentaren, vor allem erstaunt, dass die Neuinfektionsrate so niedrig ist.

Um 30 Prozent stieg sie.

Richtig, aber die absolute Zahl sagt, dass die Dynamik der Neuinfektion eher gering ist.

Bitte?

Man muss sich klar machen, dass es einen Unterschied zwischen altem und neuem Aids gibt.

Klären Sie uns über ihn auf.

Das alte Aids war eines, das konstruiert war als etwas, bei dem kein Unterschied zwischen HIV-Infektion und Aids gemacht werden konnte: Eine Ansteckung mit dem Virus war fast identisch mit raschem Sterben.

Heutzutage ist das nicht mehr so?

Seit 1996 gibt es Medikamente, die ein Überleben mit HIV möglich machen.

Darf man sich weniger schützen?

Nein, aber die Kritik an den aktuellen Zahlen ist so paradox: Den Neuinfizierten wird vorgehalten, sie hätten sich so verhalten müssen, als ob die Situation noch die wäre, die sie gewesen ist – fast notwendig tödlich.

Eine Infektion unter anderen?

Ja. Unsere Gefühle, das bemerke ich auch bei mir selbst, haben sich geändert. Als ich vor Jahren von jemanden erfahren habe, dass er HIV hat, dann war ich von großem Schrecken überschwemmt.

Und erführen Sie jetzt das Gleiche?

Bliebe ich vergleichsweise gelassen. Weil ich weiß, dass es, was auch immer die Nebenwirkungen der Medikamente sind, mit einer Einschränkung der Lebensqualität zu tun hat und auch mit einer Angst, irgendwann doch Aids zu bekommen. Aber die HIV-Infizierten sind nicht mehr so von Aids beherrscht.

Hat dieses Wissen um die Behandelbarkeit die Sexualität bei allen Homosexuellen verändert?

Im Gegensatz zu früher, riskiert einer nur seine Gesundheit – was wir an vielen Orten sonst auch tun. Er spielt aber nicht mit dem Tod. Wenn man diese Differenz nicht in den Kopf kriegt, dann hantiert man schnell mit Zwangsvorstellungen …

Zwangsvorstellungen?

Solche wie die, dass man nach wie vor so tut, als sei riskante Sexualität, solche ohne Kondom, wie früher des Todes. Die Sexualität hat sich in der Tat aus dem Schatten von Aids entfernt und ist freier geworden – und manchmal riskanter.

Sollten Sie jetzt nicht ein Lob auf die Pharmaindustrie ausbringen?

Ich weiß nicht …

Gebete haben den medizinischen Fortschritt ja kaum bewirkt.

Ich habe es schwer, dahinter stehende kapitalistische Interessen zu loben.

Sie sind ja von der alten Schule …

… die Medikamente haben ihre Versprechungen gehalten. Wobei man an dieser Stelle sagen muss, dass sie nur für den allergeringsten Teil der Welt gehalten haben. Das hat aber mit den Medikamenten nichts zu tun, sondern mit den sozialen Verhältnissen.

Was bedeutet eine HIV-Infektion?

Eine schwere chronische Krankheit, so wie es andere gibt, Zucker zum Beispiel. Wer an dieser Krankheit leidet, ist auch schweren Einschränkungen unterworfen – nicht mehr, nicht weniger.

Wer aber infiziert sich noch neu? Desperados? Todessehnsüchtige?

Mit Sicherheit nicht. Machen wir uns nichts vor: Es gibt in allen Gruppen Menschen, die etwas Selbstdestruktives haben. Die Neuinfizierten sind vielleicht nur in einem Moment an ihren Präventionsabsichten gescheitert.

Aber weshalb?

Die Logik der Prävention, die um das Kondom kreist, ist eine des Bewusstseins und des Ichs. Die Seele, das Begehren, die Sexualität – die haben jedoch eine eigene Rationalität. Dort sind Wünsche geborgen, die mit Präventionserfordernissen in Konflikt kommen können. Und das Resultat des Konfliktes kann eine Infektion sein.

Die Öffentlichkeit spricht über so genannte Barebacker, Menschen, die bewusst ohne Kondom Sex haben.

Ich bin froh, dass man über dieses Phänomen spricht. Das Interessante ist, und das hat genau mit der Veränderung von Aids zu tun, dass ein solches Phänomen mit eigenem Namen aufgetreten ist.

Barebacking – sattelloser Sex!

Er symbolisiert eine Reaktion auf die strengen Anforderungen der Prävention. Genau das wird beim kondomlosen Sex triumphierend in Szene gesetzt.

Was denn genau?

Etwas, das nach der Logik der Prävention gar nicht sein darf. Nämlich die Deponierung von Sperma. Es ist eine Fetischisierung des von der Prävention Verbotenen.

ein Protest?

Ja.

ein todessehnsüchtiger Protest?

Ach, Todessehnsucht. Das ist eine romantische Figur. Und da geht es nun wirklich nicht romantisch genug zu. Menschen, die sich sexuell riskieren, die etwas tun, was den Ideen der Prävention widerspricht, sind der Vernunft manchmal müde. Beim Barebacking werden die Einschränkungen des Sexuellen am deutlichsten benannt.

Welche Einschränkungen?

Auf die Fantasien, die mit dem deponierten Sperma zu tun haben, zu verzichten. Auf körperliche Nähe. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass der Erfolg der niedrigen Infektionszahlen nicht nur mit einer kondomisierten Sexualität erkauft wurde, sondern vor allem mit einem ungeheuren Verzicht auf sexuelle Lust überhaupt. Im Barebacking werden Dinge in Szene gesetzt, die risikoreich sind. Die Pointe ist doch: Gummiloser Sex ist auch faszinierend für andere.

Sie skizzieren kondomlosen Sex wie ein Sehnsuchtsfeld.

Als ein Faszinosum. Zwei Körper treffen sich. Schutzlos. Das muss man begreifen, und zwar auch Heterosexuelle, die von Desperados sprechen.

Man hört nicht nur aus heterosexuellen Kreisen: Die Neuinfizierten haben selbst schuld. Andere sagen, sie seien Opfer.

Es ist gefährlich, die Neuinfizierten von der Solidarität mit allen Kranken auszuschließen. Sie sind keine Opfer, sie sind keine Täter.

Sondern?

Menschen, die manchmal an den Absichten, die sie haben, oder an dem Wunsch, sich zu schützen, andere zu schützen, scheitern. Opfer, Täter … das ist mir zu pathetisch.

Muss man doch eine Epidemie fürchten?

Nein, ein Leichtsinn wird nicht um sich greifen. Da habe ich keine Angst.

Warum nicht?

Solange die HIV-Infektion in der Welt bleibt und ist, was sie ist, nämlich mit einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität verbunden, gibt es gute Gründe, sich zu schützen. Jeder sorgt sich auch um sein Wohl, insofern bleiben Kondome immer im Bewusstsein. Dennoch muss man mit wachsenden Neuinfektionsraten rechnen.

Das soll die Gesellschaft, hetero oder homo, akzeptieren?

Selbstverständlich. Warum eigentlich nicht? Andere selbstdestruktive Praktiken – Skifahren, Autoraserei – nimmt sie ja auch hin.

Was halten Sie davon, HIV-Eingreiftruppen gegen Barebacker zu bilden?

Nicht als moralische Instanz. Aber es sollte eine andere Art der Prävention ausprobiert werden.

Welche?

Eine, die dort, wo sich Risiken gehäuft konstituieren, interveniert. Auf Sexpartys – dort überhaupt, wo pure Kondomverteilerei nicht mehr zieht. In solchen Zusammenhängen muss man stören.

Wer will schon an solchen Orten Ärger riskieren?

Man sollte es wenigstens probieren, den Mund aufzumachen.

Ist das Pädagogik – oder Prävention?

Prävention. Und zwar eine, die sich die Hände schmutzig macht.

Was darf man darunter verstehen?

Nichts, was moralisch argumentiert. Keine Belehrung, etwa mit dem Satz: Das ist aber schrecklich, was du machst.

Sondern?

Ein Beispiel. Wenn ich jemanden habe, der schwule Orte besucht und dort von 15 Schwänzen am Abend penetriert werden könnte, da braucht es ja keine Potenz im landläufigen Sinne, und ich bringe ihn nicht dazu, dass er seinen Sexpartnern gegenüber auf ein Kondom besteht, dann sage ich: „Bestehen Sie doch darauf, dass der Schwanz vor dem Ejakulieren herausgezogen wird.“ Oder: „Fragen Sie sich doch mal, ob nicht auch drei reichen?“

Das soll es sein?

In genau dieser Grobheit. Nicht so, dass er sich zum sozialarbeiterischen Fall gemacht fühlt. Nur so kann man der Dynamik, die sich seit Einführung der HIV-Medikamente zeigt, ein wenig Einhalt gebieten.

Was haben Sie eigentlich gegen die so genannte Moralkeule?

Die nützt nichts. Die glaubt einem keiner. Die moralisch Argumentierenden sind diejenigen, die selbst Angst davor haben, von der sexuellen Dynamik, die sich wieder zeigt, verführt zu werden.