Das Krisenmanagement der Atomindustrie: Frau Hashimoto erzählt ein Lehrstück
Atomreaktoren erzeugen vor allem Geld. Die Börse meldet: „Tokio heiter“. Wie sich das alles für eine ganz normale japanische Bürgerin anfühlt, erzählt Frau Hashimoto.
Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Atomreaktoren vor allem eins erzeugen, nämlich Geld. Energie ist nur ein Nebenprodukt. Der Nutznießer, die Atomindustrie, ist ein weltweit operierendes totalitäres Finanz- und Machtkartell, das sich bei der Durchsetzung seiner Interessen von nichts und niemandem aufhalten lässt. Die Atomindustrie ist verflochten mit den Weltkonzernen und steuert Regierungen, Organisationen, Wissenschaft und Massenmedien beim Vorantreiben ihrer Multimilliardengeschäfte. Die radioaktiven Spuren dieser Geschäfte hinterlässt sie auf dem gesamten Erdball. In allen Lebewesen, in Boden, Wasser, Luft.
So, wie sie alles andere managt, managt sie auch eine nukleare Katastrophe. Seit am 11. März 2011, nach Erdbeben und Tsunami, im japanischen AKW Fukushima die Kernschmelze eintrat, Brände ausbrachen, Reaktoren explodierten und der größte Super-GAU in der Menschheitsgeschichte seinen Lauf nahm, werden die Bürger Japans und die Weltöffentlichkeit systematisch im Unklaren gehalten. Umfang und Ausmaß der Katastrophe werden bagatellisiert, die Bevölkerung wird ihr ungeschützt preisgegeben. Gäbe es nicht mutige Experten, wir wüssten bis heute nicht, dass die Explosion des Reaktors 3 (am 14. März ) mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Kernexplosion war, mit Freisetzung auch von Plutonium. (Block 3 war mit den sogenannten MOX-Brennelementen bestückt, die besonders gefährlich sind durch ihre nanopartikelgroß zermahlene plutoniumhaltige Füllung.) Und wir wüssten auch nicht, dass die eigentliche Katastrophe erst noch bevorsteht. Sie tritt dann ein, wenn in der baufälligen Ruine von Reaktorblock 4 das offen liegende Abklingbecken vom 5. Stockwerk hinab in die Tiefe stürzt. Es ist nicht nur dicht gefüllt mit abgebrannten Kernbrennstäben, drinnen liegt auch der für Wartungsarbeiten ausgelagerte Reaktorkern.
Die Lage ist außer Kontrolle, es herrscht längst Ausnahmezustand. Aber nicht Militär und Polizei marschieren auf, um Panik und Gewaltausbrüche einzudämmen, sondern eine medial inszenierte, narkotisierende Normalität. Sie wurde über das ganze Land verhängt. Sie sorgt für Ruhe, öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die Börse meldet: „Tokio heiter“.
Wie sich das alles für eine ganz normale japanische Bürgerin anfühlt, erzählt Frau Hashimoto. Ich lernte sie durch Vermittlung von Sebastian Pflugbeil kennen und schlug ihr einen Mail-Briefwechsel vor, angesichts des ersten Jahrestages. Hier Auszüge aus ihren Briefen.
Sonntag, 19. Februar 2012,
5.42 Uhr. Aus Japan
Liebe Frau Goettle,
vielen herzlichen Dank für Ihre Mail vom 17. Februar. Selbstverständlich bin ich gerne bereit für Ihre Fragen und den Briefwechsel. Dann könnte ich vielleicht anfangen in der Art eines Tagebuches?
Aufgewachsen bin ich in Tokio, dort habe ich nach der Schule Germanistik studiert. Ich habe eine ältere Schwester, sie ist Klavierlehrerin. Heute, 2012, bin ich 54 Jahre alt. In den 80er Jahren habe ich für 2 Jahre in Freiburg gelebt. Es war eine sehr schöne Zeit für mich.
15 Jahre wohnte ich mit meiner Familie – meinem Mann, er ist 55 Jahre, und meiner inzwischen 14-jährigen Tochter – in der Präfektur Fukushima, in der Kleinstadt Miharu, etwa 50 Kilometer entfernt vom AKW Fukushima Daiichi.
Die Präfektur Fukushima, mit etwa 2 Millionen Einwohnern, ist eine von 47 Präfekturen und gehört zu Nordjapan. Es ist ein sehr schönes Land, eine der fruchtbarsten Regionen Japans, reich an Natur, agrarisch geprägt. Auch wenn man selbst kein Bauer ist, haben viele Leute kleine Gemüsegärten oder Ackerfelder für den eigenen Verbrauch. Wir lieben solch eine Lebensart und diesen Lebensrhythmus. Ich war vorher ganz selten im Supermarkt zum Gemüsekaufen. Miharu hat, bzw. hatte, 20.000 Einwohner. Der Name bedeutet „drei Frühlinge“, weil hier die Plaumen-, Pfirsich- und Kirschbäume gleichzeitig blühen. Der kalte Winter ist lang, früher freute man sich auf den dreifach schönen Frühling. Miharu ist in ganz Japan sehr bekannt durch seinen berühmten, über 1.000 Jahre alten Kirschbaum. Er ist 12 Meter hoch, seine Krone umfasst 20 Meter und sein Stamm ist 9 Meter dick. Jährlich kamen mehr als 300.000 Besucher, um ihn blühen zu sehen. (Als er heranwuchs, starb Roswitha von Gandersheim und in Japan wurde der Zen-Buddhismus eingeführt. Anm. G. G.)
Mein Mann ist Heilpraktiker (Lizenz für Akupunktur). Er hat sich spezialisiert auf ostasiatische Naturheilkunde und betreibt eine eigene Praxis in unserem Haus. Vor vier Jahren haben wir uns dieses Haus neu gebaut, ein Holzhaus. Zusammen mit einem erfahrenen Zimmermann haben wir es intensiv geplant. Er hat es dann innerhalb von einem Jahr nach der traditionellen japanischen Bauart errichtet und mit möglichst wenig Chemie und Kunststoff. Bei einfachen Arbeiten konnten wir ab und zu mithelfen. Nach dem Einzug haben wir uns dort sehr wohl gefühlt, obwohl wir noch 20 Jahre lang Schulden abbezahlen müssen für das Haus. Aber wir konnten in diesem schönen Haus kaum zwei Jahre miteinander leben. Fukushima war für unsere Tochter nicht mehr sicher. Mein Mann ist dageblieben, er will seine Patienten weiter betreuen.
Unser Zimmermann und auch die Handwerker wohnten in dieser Küstenregion, die heute Sperrzone ist. Sie alle haben ihre Häuser verloren und leben heute über verschiedene Orte verstreut. Überall ein trostloser Ameisenumzug. Unser Alltag ist total verloren gegangen!
Weiteres möchte ich morgen schreiben …
Im Moment des Erdbebens
So, ich bin wieder am Schreibtisch.
Im Moment des Erdbebens – die Erde hat auffällig lange gebebt – war ich allein zu Hause. Es war kurz vor 3 Uhr. Meine Tochter war bei ihrer Freundin, mein Mann war mit dem Auto unterwegs. Die Telefonverbindungen funktionierten danach nicht mehr. Zum großen Glück haben wir uns innerhalb der nächsten zwei Stunden zu Hause wieder getroffen. Erst abends konnten wir im Fernsehen die Nachricht von dem Tsunami sehen. Wir waren sprachlos vor Entsetzen.
Am nächsten Tag – es war Samstag – hat mein Mann einen Bekannten getroffen, der schon lange in der Anti-AKW-Bewegung ist. Er erzählte, dass das AKW Fukushima Daiichi katastrophal beschädigt worden sei. Die Regierung hatte an diesem Morgen die Evakuierungszone von 3 auf 10 Kilometer erweitert. „Nur zur Sicherheit“, wie man sagte. Nachmittags hat ein anderer Freund darauf hingewiesen, dass wir, schon allein wegen unserer Tochter, besser weit weg Zuflucht suchen sollten.
Die Entscheidung, sofort Miharu zu verlassen oder zu bleiben, war für uns nicht leicht. Keiner wusste Genaueres, alles Undenkbare war möglich. Allein ein Drehen der Windrichtung konnte darüber entscheiden, ob es richtig oder falsch war, in eine bestimmte Richtung zu flüchten, da ungeheuerlich stark verseuchte Wolken über die Region gezogen sind. Aber offiziell wurden wir über die gefährliche Lage und ihre Bedeutung gar nicht informiert.
Viele Menschen haben sich sorglos in der Region bewegt und waren der Strahlung schutzlos ausgeliefert. In einigen Städten gab es wegen des Erdbebens kein Wasser, die Leute – auch viele Kinder – haben draußen Schlange gestanden für Trinkwasser, weil jeder nur 4 Liter bekommen konnte.
Am Nachmittag des 12. März haben wir uns dann entschlossen, unseren Wohnort zu verlassen und weit in den Südwesten zu fahren. Während wir in aller Eile die nötigsten Sachen packten, hörte ich im Fernsehen die Nachricht von der ersten Explosion im AKW.
Die Autobahnen waren gesperrt, auf den Landstraßen waren große Staus, es hat lange gedauert, bis wir die Nachbarpräfektur erreicht hatten. Es war wirklich sehr schwierig, zuverlässige Infos zu bekommen, und unterwegs, in jedem fremden Ort, einen Internetzugang zu finden, war ein Problem. Mit einigen Zwischenstationen sind wir nach 4 Tagen in Osaka angekommen, es liegt ca. 700 Kilometer von den Reaktoren entfernt. Als ich endlich einen Anschluss für meinen PC hatte, war meine Mailbox voll. Ich bin unseren Freunden sehr dankbar, die uns rechtzeitig Hinweise gegeben haben. Besonders die Informationen aus Deutschland haben uns schockiert, ich konnte anfangs diese Nachrichten nicht glauben. Die offiziellen japanischen Verlautbarungen waren andere. Später habe ich gehört, dass bei uns ein freier Journalist, der am 12. März die Kernschmelze erwähnt hat, damals der Mittelpunkt des Tadels geworden ist und fast „verfolgt“ wurde.
Ich habe dann einige andere Mütter angerufen und gemahnt, dass die Lage schlimmer sein könnte, als offiziell bekannt gegeben wird; dass es besser wäre, mit den Kindern weit weg Zuflucht zu suchen. Ich konnte aber keine einzige Mutter überzeugen und es verstörte mich sehr, dass sie nur auf die offiziellen japanischen Nachrichten hören. Außer in einigen kleinen Kommunen sind nirgendwo Jodtabletten an die Kinder verteilt worden. Später erfuhren wir, dass das gesamte Krisenmanagement des Staates und der Präfektur nicht funktionierte. Es gab ein einziges Chaos. Aber die Bürokratie funktionierte!
Es ist schon spät. Morgen schreibe ich weiter …
Schulbeginn in Fukushima
In Japan beginnt das Jahr im Frühling. Das neue Schuljahr beginnt im April, das heißt, die Schüler werden im April in die nächste Schulklasse versetzt. Das neue Geschäftsjahr fängt auch im April an. Seit dem Erdbeben hatte es keinen Schulunterricht mehr in Fukushima gegeben. Ende März habe ich eine Mitteilung von der Schule erhalten, die besagte, dass alle öffentlichen Schulen in Fukushima außerhalb der 20-Kilometer-Sperrzone ganz normal am 6. April wieder beginnen. Obwohl die Reaktoren zu diesem Zeitpunkt weiterhin in unvorhersehbaren Zuständen havarierten.
Ende März hat eine Elterngruppe in Fukushima, der Hauptstadt der Präfektur, die Strahlendosis auf den Schulhöfen gemessen. Dabei wurden erschreckende Ergebnisse gefunden. Obwohl die Eltern verlangten, dass auf allen Schulhöfen die tatsächliche Kontamination erfasst wird, hat der Schulunterricht dann doch pünktlich am 6. April begonnen. Dann erst, parallel zum Schulbetrieb, hat die Präfekturverwaltung angefangen zu messen.
Bei 75 Prozent aller öffentlichen Schulen und Kindergärten in der Präfektur (außerhalb der Sperrzone) war die Kontamination so stark, dass sich nach japanischem Gesetz dort eigentlich ohne Sondergenehmigung niemand aufhalten dürfte.
Wir waren in Osaka. Es war für mich schwer zu akzeptieren, nur wegen des Schulbeginns wieder nach Fukushima zurückzufahren. Aber unsere Tochter wollte unbedingt ihre Freunde wiedersehen. So sind wir zurück nach Fukushima gefahren.
Zwei Wochen nach Schulbeginn hat das Erziehungsministerium den Grenzwert für Kinder einfach auf 20 Millisievert pro Jahr erhöht, 20-mal höher als der ursprüngliche gesetzliche Wert. Dieser Wert entspricht in Deutschland der Höchstbelastung für Arbeiter in Kernkraftwerken. Wenn aber die Grenzwerte herabgesetzt würden, dann müssten noch mindestens zwei größere Städte evakuiert werden. Das wollte die Administration aus finanziellen und bürokratischen Gründen auf keinen Fall. Das Wichtigste für die Behörden war, den Alltag in Fukushima möglichst schnell wieder normal erscheinen zu lassen. Wem das nicht gefällt, der soll bitte auf eigene Faust wegziehen, aber er wird dann auch keine Entschädigung bekommen. Ab Mitte April ist in Fukushima eine große Protestbewegung entstanden, ebenso wie in ganz Japan, die Mütter haben sich zusammengeschlossen. Gemeinsam mit verschiedenen Experten wurde Widerspruch erhoben gegen den neuen Grenzwert, Eltern haben das „Fukushima-Netzwerk zum Schutz von Kindern“ gegründet, um sich auszutauschen und mit den Behörden zu verhandeln.
Während dieser Zeit haben wir in großer Aufregung und Erschütterung ratlos dagestanden. Und wir haben uns gefragt, wie groß ist der Einfluss von Tepco auf die Politiker? Dass unsere Regierung uns nicht die Wahrheit gesagt hat, dass die tatsächliche Gefahr verschwiegen wurde, das hat vieles in tragischer Weise noch verschlimmert. Denn es hat nicht nur unsere Gesundheit in Gefahr gebracht, es hat uns Menschen auch getrennt und unsere Beziehungen zerstört. Innerhalb der Nachbarschaft, in den Gemeinden, auf dem Arbeitsplatz und in den Familien gab und gibt es große Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Auffassungen über die Gefährlichkeit der Situation.
Frischer Rettich aus der Präfektur Fukushima
Dazu beigetragen haben auch drei meiner Ansicht nach gekaufte Experten, die als medizinische Berater in der Präfektur Fukushima eingesetzt wurden nach dem Unglück und die seitdem dort die Regeln bestimmen. Darunter ein bekannter Arzt, Prof. Sunichi Yamashita. Er behauptet, dass eine Dosis von 100 Mikrosievert pro Jahr unbedenklich ist, dass man lokale Lebensmittel essen kann, dass die Kinder ruhig im Freien spielen könnten und dass Menschen, die lächeln und glücklich sind, keine Strahlenschäden bekommen.
Wir wissen heute genau, dass auch die japanischen Medien unter großem Einfluss von Tepco und anderen Stromversorgern stehen, allein schon wegen der riesigen Werbeeinnahmen. Wir sind quasi auch von unseren eigenen Medien verraten worden!
Ende Mai – wir waren noch in Fukushima – habe ich mitten im Supermarkt ratlos dagestanden. Milch, Eier, Gemüse, Fleisch, waren lediglich gekennzeichnet als „Inlandprodukte“. Nur bei den frischen Rettichen stand „aus der Präfektur Fukushima oder Chiba“. Aber auch Chiba war nicht mehr schadensfrei. Egal, welchen Rettich ich genommen hätte, ich hatte eigentlich keine Wahl mehr. Ein großer Schrecken hat mich plötzlich ergriffen und ich habe beschlossen, ich will keinen einzigen Tag mehr an diesem Ort bleiben. Ich bin schnell vom Einkaufen nach Hause gegangen, habe ganz ernsthaft mit meiner Tochter gesprochen und bald sind wir zu meinen Eltern gezogen. Die beiden sind schon über 80 und wohnen etwas außerhalb von Tokio. Mein Vater war Elektroingenieur bei der Bahngesellschaft, die damals noch staatlich war, meine Mutter war Hausfrau.
Der Abschied von ihren lieben Freunden und von der vertrauten Welt zu Hause hat meine Tochter sehr traurig gemacht. Sie kann nicht verstehen, dass sie zu ihrem Schutz weg musste, während ihre Freunde fast alle blieben, und sie nicht weiß, was mit ihnen dort passiert. Viele der weggezogenen Kinder leiden unter einem schlechten Gewissen und sind nicht glücklich. Aber wie sollen sich die empfindlichen Kinder denn fühlen, wenn sie so hilflos und verlassen sind? Ich dachte, wir müssen noch mal ernsthaft die Kinderaussiedlung vorschlagen!
Letzten Juni wurde die Stadt Koriyama durch eine Elterngruppe von 14 Kindern verklagt (eine provisorische Maßregel). Der Grund ist, dass die Stadt die Schüler illegalerweise dazu gezwungen hatte, trotz der hohen Strahlenbelastung die Schule zu besuchen. Koriyama hat 340.000 Einwohner und ist die größte Wirtschaftsstadt Fukushimas. Obwohl sie mehr als 60 Kilometer von den Reaktoren entfernt liegt, ist sie auch sehr stark kontaminiert. Nach den Erfahrungen von Tschernobyl ist das besonders auch für die Kinder gesundheitsschädlich. Wenn die Richter unabhängig von der politischen Einflussnahme hätten urteilen können, dann hätte die Elterngruppe den Prozess gewinnen müssen. Die Klage wurde abgelehnt, mit total vernunftwidrigen Begründungen. Der Rechtsanwalt der Elterngruppe will versuchen, diesen Prozess nach der internationalen Zivilentscheidung beurteilen zu lassen. Wir brauchen Hilfe und Unterstützung von der ganzen Welt!
Im August 2011 haben sich Kinder aus Fukushima in Tokio direkt bei der Regierung beschwert. Vier Kinder haben ihre Beschwerde vorgelesen. Meine damals 13-jährige Tochter war eines dieser Kinder, sie hat unter anderem gesagt: „Sie haben die Grenzwerte um das 20-fache angehoben und sagen uns, es bestünde keine Gefahr. Das glaube ich nicht! Diese Art der Problemlösung kann von uns Mittelschülern und Schülerinnen nicht akzeptiert werden. Werden die Leben der Menschen aus Fukushima geringer geschätzt als das Geld?!“
Wir verlangen jetzt zwei dringende Schutzmaßnahmen für unsere Kinder: eine ist die Evakuierung der Kinder an sichere Orte. Auch Tokio ist nicht schadensfrei und sicher. Dass die großen Firmen und Banken nach Osaka umziehen, ist ein deutliches Signal. Die zweite Forderung lautet: systematische Kontrolle über die Verstrahlung der Nahrungsmittel. Und gleichzeitig wollen wir eine endgültige Entscheidung zum Atomausstieg!
… Es ist 11 Uhr nachts. Bei Ihnen 7 Uhr morgens? Ohayou.
2-mal im Monat Besuch
Wir sind im Dezember 2011 in die Stadt Matsumoto (etwas westlich von Tokio, 240.000 Einwohner) in der Präfektur Nagano umgezogen. Hier wohnen wir zur Miete in einem Haus mit Garten. Meine Tochter hat sich in der Schule in Tokio nicht wohlgefühlt. Es scheint, dass sie hier gleich gute Freunde finden konnte, und sie geht wieder fröhlich zur Schule. Das macht uns sehr glücklich. Ich habe hier noch keine Bekannten. Ich bin seit 5 Jahren Reiseleiterin für deutschsprachige Japanbesucher. Man braucht eine staatliche Lizenz dafür. Im letzten April hatte ich eine 3-wöchige Reise mit 25 Gästen durch Japan vor mir, sie wurde aber storniert wegen des Unglücks. Danach gab es fast keine Arbeit mehr für uns. Letzten Herbst hatte ich ein Ehepaar aus der Schweiz. Sie waren nett, aber die Arbeit hat mir keine Freude mehr gemacht. Ich bin nicht in der Lage, über irgendwelche Schönheiten eines alten Tempels zu erzählen, während die Kinder in Fukushima tatsächlich verstrahlt werden. Und auch dem Paar konnte ich kein Restaurant sorglos empfehlen. Ich hätte viel lieber über unsere wahren Gegebenheiten erzählt. Ja, vielleicht ist das mein Problem, dass ich momentan kein anderes Thema akzeptieren kann. Meine Tochter wird oft wütend darüber.
Nach diesen 12 Monaten sind wir alle arg müde. Mein Mann sieht heute viel älter aus als vorher – nach so großen Umständen, so vielen Fahrten, und so vielen Kämpfen. Er findet mich auch scheußlich strapaziert und gealtert. Wir haben aber einige kleine Erleichterungen.
Wir haben ein kleines gebrauchtes Auto gekauft für den Transport. In japanischen Kleinstädten ist das öffentliche Verkehrssystem nicht optimal. Was mir aber am meisten fehlt, ist mein ganzer normaler Alltag. Mit meiner Familie frühstücken, einfach plaudern oder etwas planen oder etwas kochen und liebe Freunde einladen. Ich dürste danach!
Ein verdoppelter Haushalt ist viel Aufwand. Mein Mann versucht 2-mal im Monat uns zu besuchen. Wenn er mit dem Auto fährt, sind das 400 Kilometer durch die Berge, mit kleinen Pausen, ca. 6 Stunden. Mit dem Zug muss man über Tokio fahren, da dauert es von Tür zu Tür 7 Stunden und es ist teurer. Er hat eine Patientengruppe in Yokohama, die er auch schon vorher regelmäßig besucht hat. Er arbeitet viel. Mein Mann hat mir gesagt, dass er schon mit mehr als 1.300 Betroffenen gesprochen hat bei seinen Self-Care-Seminaren, die er in Fukushima mit Unterstützung einer NGO macht seit dem Unglück. Teilnahmegebühr ist meistens gering oder frei. Die Einwohner sind bereits gesundheitlich beschädigt. Kinder haben Durchfall, Nasenbluten, Husten, Halsschmerzen andauernd. Älteren Leuten sind meistens ihre Füße geschwollen, man zögert, ohne Bedürfnisse spazieren zu gehen. Hauptthema ist zum Beispiel: Stärkung des Immunsystems. Aber er befürchtet, dass die bedenklichen Folgen tatsächlich erst noch zum Vorschein kommen werden.
… Ich unterbreche jetzt.
Es ist sehr trostlos
Ja. Es ist sehr trostlos. Meine Eltern sind Buddhisten, mein Mann stammt aus einem shintoistischen Haus. Religion spielt aber heute für manche Leute keine große Rolle mehr. Trotzdem merkt man doch ab und zu, dass man sich nach der buddhistischen Lehre benimmt, man sein „Dogma“ unterbewusst tief im Blut hat. Vor einer unüberwindlichen Naturkatastrophe wie Erdbeben und Tsunami fühlt man sich, als ob menschliche Arbeit nur Schein wäre. Man wünscht sich eine wesentliche ursprüngliche Ebene zurück, um sich zu trösten. Aber die Atomkatastrophe ist keine Naturkatastrophe, sie ist eine aus der hochmütigen Leichtfertigkeit der Menschen entstandene, unnatürliche und technische Katastrophe. Der Shintoismus basiert auf einer animistischen Grundidee, nach der die Kraft der Natur als heilig und ehrwürdig angesehen wird. Bei der Atomkatastrophe haben wir ein ganz anderes Gefühl, es gibt keinen Trost, da kann kein Glaube den Menschen helfen, da besteht keine Ehrfrucht.
Ich habe vor Kurzem bei einer Veranstaltung in Osaka Dr. Hida gesehen. Haben Sie von ihm gehört? Er ist ein Internist von 94 Jahren, Hibakusha-Arzt und Organisator. Er hat mit 24 in Hiroshima die Atombombe erlebt. Jetzt kümmert er sich um die Fukushima-Kinder. In der Schule haben wir sehr wenig gelernt über Hiroshima und Nagasaki. Gleich nach dem Kriegsende haben die USA versucht, alle Informationen über die Opfer unter Kontrolle zu halten und keine Einzelheiten nach außen dringen zu lassen. Sie haben den Ärzten verboten, dass sie über die Zustände und Symptome sprechen. Es gab Druck und Bedrohung dazu. Wir merken jetzt, dass wir heute ebenso wenig erfahren haben nach der Reaktorkatastrophe über die radioaktiven Belastungen und die dadurch verursachten Erkrankungen. Diese werden in gleicher Weise von unserer eigenen Regierung und den Behörden vertuscht. Wir wissen immer noch nicht, welche Kernelemente ausgeströmt sind und wie viel davon. Wir haben große Sorge, was mit den havarierten Reaktoren weiter passieren wird. Wir werden immer nur beruhigt. Am vergangenen Sonntag hat der traditionelle Tokioer Marathonlauf stattgefunden. 36.000 Läufer.
Aber Tokio ist nicht schadensfrei! Es ist nicht zu verstehen. Auch letztes Jahr wurden erstaunlicherweise bei vielen Schulen in Fukushima die Sportfeste draußen veranstaltet, wie immer. Solche hoffnungslos unflexiblen Denkweisen sind fast kriminell!! Die Politiker behaupten auch, dass die Verbrennungen von radioaktivem Müll keine großen Probleme verursachen würden. Sie sagen, das sei für die Orte im Norden hilfreich, bitten die Gemeinden um Verständnis und darum, den Schmerz zu teilen. Und der Müll wird verbrannt, auch in weit entfernten, schönen Gebieten, wo noch keine Strahlenbelastung angekommen ist; auch weil das Geld wichtiger ist als das Leben, wie meine Tochter gesagt hat. Mein Mann erzählte, dass ein riesiges Budget nach Fukushima fließt, man sagt, es wird alles dafür getan, dass die Evakuierten wieder zurückkehren können. Die Dekontaminierungsarbeiten und der Rückbau sind Big Business für die nächsten Jahrzehnte. Besonders ärgern uns Gerüchte, dass Tepco-Tochtergesellschaften sich einen großen Anteil am Gewinn sichern. Das alles wird uns auch noch gute Steuern kosten. Es schneit gerade wieder, aber frühlingshaft, unsere kälteste Zeit ist vorbei. Die Zedern-Pollen sind schon überall in der Luft. Es gibt große Mahnungen – nicht nur für Allergiker –, dass die Pollen in diesem Jahr sehr gefährlich sein können, durch Radioaktivität, die sie transportieren!
… So, langsam gehe ich ins Bett. Oyasuminasai (gute Nacht )
Verseuchte Waren auf den Markt
Von den Lebensmitteln will ich noch schreiben. Tokio ist vor allem bei seinen Lebensmitteln sehr abhängig von den umliegenden Präfekturen, bisher auch von Fukushima und Nordjapan. In der Zwischenzeit wurden viele Messstationen eingerichtet, auch in Tokio und in Matsumoto, wo ich im Supermarkt einkaufe, und bei den Verkaufsstellen der Bauern. Die offiziellen provisorischen Grenzwerte für Lebensmittel sind viel zu hoch angesetzt, so dass alles „unbedenklich“ ist und die verseuchten Waren auf den Markt gebracht werden können. Die Herkunft wird hier angegeben und man vermeidet automatisch, Produkte aus Fukushima zu kaufen. Aber es gibt eine Kampagne, auch im Fernsehen, Produkte aus Fukushima zu essen, den Schmerz zu teilen. In manchen Supermärkten ist oft eine große Fahne aufgehängt, darauf steht „Never give up, Fukushima!!“ Unerträglich.
Ich höre auch oft Gerüchte, dass große Mengen an Produkten aus Fukushima im Lager übrig geblieben sind, wegen der Messungen beiseite geschoben wurden, oder von dem Markt zurück geschickt. Sie würden heimlich auf den Märkten verkauft und in den Restaurants angeboten. Man kann das nur schwer kontrollieren. Wir essen heute sehr selten Fisch. Ja, wir müssen bei allem skeptisch sein. Wir wissen nicht, ob das Wasser in Matsumoto gründlich untersucht worden ist oder nicht. Ich kaufe Wasser in Flaschen, Wasser aus unseren Alpengebieten oder Volvic aus Frankreich. Es gibt wirklich keine Ruhe mehr seit einem Jahr. Am Sonntag ist Jahrestag!
… Ich werde später weiterschreiben. Bis nachher.
Einmal heulend lachen
Verzeih, es hat etwas länger gedauert. Gestern zum Jahrestag, war ich hier bei der Demonstration. Freunde waren da. Auf dem Podium wurden die Reden gehalten und genau um 14.46 Uhr war ein stilles Gedenken an die Opfer und das Ereignis damals. Danach gab es mit vielen Menschen und vielen Transparenten eine Demonstration durch die Stadt. Ich fühlte das gemeinsame Mitgefühl bei allen.
Wir sind ziemlich verzweifelt – da ist nicht nur die Katastrophe des AKWs, sondern auch die unmenschliche, kalte und trostlose Haltung der Behörden uns gegenüber, die alles noch viel schlimmer macht. Ich empfinde eine große Enttäuschung gegenüber unserer bisherigen Gesellschaft, über die absolute Bürokratie der Behörden, über den offensichtlichen Betrug von Tepco, über das gesamte hierarchische Entscheidungssystem und über den gründlichen Gehorsam, die das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen vernebeln können. Und auch über die Medien, die dabei helfen, indem sie falsche Behauptungen und optimistische Vorstellungen verbreiten, mitten in der Katastrophe.
Sie können unseren Protest aber nicht verhindern! Wir stehen hier in Japan jetzt an einem Wendepunkt, viele Fachleute und Mitbürger denken nun anders, äußern öffentlich ihre Meinung, wollen einen endgültigen Atomausstieg. Viele Mütter sind sehr aktiv. Wir müssen unsere Kinder und nächste zukünftige Generationen schützen, das ist unser gemeinsames Ziel, zu allererst!! Leider, optimistisch kann ich nie sein, aber wenn wir jetzt hier in Matsumoto wenigstens eine Aufenthaltsmöglichkeit für Fukushima-Kinder aufbauen können und dadurch die Kinderaussiedlung gefördert wird, würde ich einmal heulend lachen!
Ich verabschiede mich nun und wünsche Ihnen einen schönen Frühlingstag. Arigatou (danke schön) für Ihr großes Interesse an Fukushima, auch an alle, die dies lesen. Viele liebe Grüße, Masako Hashimoto
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
Übergriffe durch Hertha-BSC-Fans im Zug
Fan fatal