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Das SchlaglochErlösung mit Lohengrin

Kommentar von Kerstin Decker

Warum ein Opern-Grundkurs in Engelskunde einfach unfassbar politisch sein kann und was Engel und Hartz IV-Empfänger gemeinsam haben?

O b es Erlösung gibt, weiß keiner; wir wissen nur, wie sie klingt: A-Dur. Vierfach geteilte Violinen, kaum hörbar, ganz weit oben, immer höher schwebend. Ein Vorhang aus Licht. Sie schwellen an, nur leicht, der Klang wächst, und dann zwei Oboen und zwei Flöten. Der Augenblick, da sie hinzutreten, ist nicht kritisierbar.

So beginnt „Lohengrin“, Richard Wagners wohl romantischstes Werk, das soeben an der Deutschen Oper in Berlin guillotiniert wurde. Schweigen wir – vorerst – von der Inszenierung. Interessant ist, was wir da noch immer hören. Dass wir es noch immer hören.

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, hat Friedrich Nietzsche gesagt und doch nicht daran geglaubt, dass die Musik, die er liebte – und das war lange, sehr lange Wagner –, den Späteren überhaupt noch verständlich sein würde. Ja, man muss das einmal so deutlich sagen: Nicht einmal Wagner selbst hat es geglaubt, schon gar nicht vom „Lohengrin“, den er im Geiste bereits beerdigt hatte, als er 1850 doch noch aufgeführt wurde.

Bild: Wolfang Borrs
KERSTIN DECKER

ist promovierte Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Zuletzt schrieb sie für die taz über das Buch „Der Kulturinfarkt: Von allem zu viel überall das Gleiche“.

Und sogar Hans von Bülow, Freund, Dirigent und Märtyrer im Zeichen Wagners, rechnete mit dem Verstummen dieser Noten für die Ohren der Nachgeborenen. Das ist keine nebensächliche Erfahrung.

Tote wie Ausrufezeichen

Wer sich spätestens an dieser Stelle fragt, warum er auf einer Meinungsseite etwas über Richard Wagner und die Erlösung lesen soll, dem sei versichert: Die Erlösung ist ein unfassbar politisches Thema, vielleicht gibt es gar kein politischeres.

In Berlin erschien Lohengrin mit Flügeln, mit Schwanenflügeln, die er den ganzen Abend nicht ablegen durfte. Weil im Stück Krieg vorkommt und auch ein zeitgenössisches Opernhaus leider eine aufklärerische Anstalt ist, lagen die Toten gleich zu Beginn wie Ausrufezeichen auf der Bühne. Und weil dies wiederum keine Opernkritik ist, höre ich jetzt auf.

Philosophen haben früher viel über „Bedingungen der Möglichkeit“ nachgedacht. Heute machen das auch Nichtphilosophen fast täglich. Welche Bedingungen mussten erfüllt sein, bis dieser „Lohengrin“ von Kaspar Holten möglich wurde? Für wen ist er überhaupt?

Die Münchener in der Reihe hinter mir taten mir leid. Und die Japaner natürlich, die mit mir zwei Minuten vor Beginn aus der U-Bahn gerannt waren, weil auf allen nur denkbaren Strecken Pendelverkehr verfügt worden war. Wenn ich eine Empfehlung geben darf: Wenn Sie in die Oper gehen wollen, rennen Sie hin! Das Gehör wird scharf, der Verstand steht still, und man ist, wie jeder sein sollte, der Musik hört: vollkommen durchlässig.

Und dazu dieses A-Dur, das den allererstaunlichsten vollkommen empirischen Beweis antritt: Du bist nicht von dieser Welt! Jedenfalls nur teilweise. Sonst hören wir das nicht, im allgegenwärtigen Soundtrack des Alltags, aus dem nicht Musik, sondern nur Stille erlöst.

Taube Engel in A-Dur

Könnte es sein, dass das reine Denken ohnehin taub ist, und alles „wahr“ und „falsch“ gründet nur darauf? Das Hören kennt kein Gegenüber, nicht Subjekt und Objekt. Ich erinnerte mich angesichts des Flügelmanns, was Wagner einst in Bayreuth zu Nietzsche gesagt hatte: Augen zu! Das helfe gegen die Zumutungen von vorn. Aber der Flügel-Mann blieb trotzdem. Es war auch nicht Lohengrin, sondern der Bayreuther Chef-Beleuchter.

Er stand da, weil der Lohengrin-Sänger am Vormittag beim Arzt war, und dieser hatte ihm sinngemäß mitgeteilt, wenn er je wieder auf einer Bühne erscheinen wolle, möge er sich gleich hinlegen. Aber singen konnte der Lichtobmann nicht. Weshalb am Bühnenrand an einem Pult mit Leselampe ein nicht mehr ganz reckenhafter Herr fortgeschrittenen Alters harrte, der vor ein paar Stunden in einer anderen Stadt gefragt worden war, ob er am Abend etwas vorhabe.

Wenn nicht, so sei er, nun ja, der Erlöser. Zumindest für die Deutsche Oper. Das Publikum sah das ein wenig anders, vor allem weil es gelesen hatte, dass der einzige Lichtstrahl in der Verdammnis dieser Inszenierung ebendieser Lohengrin war, der jetzt stumm im Bett lag, Klaus Florian Vogt.

Noch nie habe ich bei einer Wagner-Oper einen so kurzen Schlussapplaus erlebt. Das war beinahe schlimmer als gar keiner, und es war auch wieder sehr ungerecht: Nur Engel sind nie indisponiert. Und nur in Katastrophen beginnt der Mensch wirklich zu denken, und diese hier währte fünf Stunden.

Wäre uns ohne Bayreuths geflügelten Beleuchter wirklich aufgegangen, dass das Urbild der großen Engelsflügel wohl Schwanenflügel sind? Und dass es wahrscheinlich kein Zufall ist, dass Engel als musikalisch gelten?

Menschsein ist Unerlöstsein

Fünf Stunden Grundkurs Angelologie. Nach christlicher Vorstellung treten sie vorzugsweise in Chören auf, auch wenn es sich nur um eine himmlische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme handeln sollte. Schließlich können sie schlecht von Ewigkeit zu Ewigkeit in den oberen Sphären flegeln wie Hartz-IV-Empfänger laut FDP in der sozialen Hängematte. Wagner hat wohl recht, Engel klingen, ganz bestimmt tönen sie sogar in A-Dur.

Aber wahrscheinlich sind sie vollkommen taub. Darum muss Lohengrin Elsa am Ende verlassen, als sie das Verbot durchbricht und doch nach seinem Namen fragt. Alles Menschliche ist ihm fremd. Könnte Lohengrin hören, könnten die Engel hören, müssten sie Menschen werden. Unerlöste also?

Wir Angehörige westlicher Zivilisation glauben, am meisten über die Conditio humana zu wissen. Oder wissen wir gar am wenigsten über unseren überaus bedenklichen ontologischen Status?

Nur darf man die grundlegenden Einsichten, die vielleicht nur grundlegende Offenheiten sind, nicht sofort wieder rahmen. Schon gar nicht in ererbte Religionen. Möglicherweise ist der Glaube überhaupt die falsche Antwort auf eine große Offenheit.

Gibt es erlösungsbedürftige Demokraten? Unsere taghelle Religion ist die Freiheit, unsere irdische Erlösung die Verwirklichung, vorzüglich die unseres Selbst. Wenn aber Menschsein doch per se Unerlöstsein bedeuten sollte, müsste man darauf nicht vorbereitet werden? Es ist fahrlässig, die Einführung in die große Unzulänglichkeit der Existenz allein den Religionen zu überlassen.

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2 Kommentare

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  • Y
    york

    tatuetata. die lohengrin-ouvertuere ist zuckerguss mit schokoladensosse.

  • KK
    Karl K

    Liebe Kerstin Decker,

     

    Ihre Beiträge les ich immer mit nachdenklichem Vergnügen, empfehle sie weiter;

     

    sorry, aber dieses Teil!?

     

    "… Herr, dunkel war der Rede Sinn…"

    oder

    " … und staunend liest's der anbetroffne Chef."

     

    sorry, aber ich les einzelne Satzfetzen:

    …" Erlösung ist ein unfassbar politisches Thema…" ; ja, ok, gebongt - und weiter?

    " Bedingungen der Möglichkeit…" , denken heute auch Nichtphilosophen fast täglich nach - ah, ja!? Und was sagt mir das?

     

    Rennen schärft das Gehör!? 

    In Maßen - ja! Und weiter?

    Hören kennt kein Gegenüber! - ja? wirklich?

    Als Musiker - ja, " wenn einen die Musik spielt" - aber sonst? ist die Musik das Objekt.

    ( Das Augenschließen reduziert ein Element der Wahrnehmung; aber das ist was anderes als Objektlosigkeit).

     

    Dazu die tauben Engel in A-Dur. 

    Und unsere Wissensunklarhei über die Conditio humana und unser überaus bedenklicher ontologischer Status.

     

    Letzteres alles irgendwie richtig,

    aber " ne Tasse Kakao kann ich mir darauf auch nicht rühren."

     

    Mein Vater, de Ohl, ist auf Freiersfüßen   zur Gaudi meiner wagner-affinen Mutter im Lohengrin eingeschlafen. 

    Vielleicht ist ja das das goal.!?