piwik no script img

Fußball und UtopieSpanien sehen und sterben

Fast alle Kommentatoren der Welt können plötzlich behaupten, der Fußball der Spanier sei langweilig – er ist nichts weniger als gelebte Utopie. Eine Liebeserklärung.

Fabregas! Amor! Bild: dapd

Die Ungarn der fünfziger Jahre um Ferenc Puskás kenne ich nur aus schwarz-weißen Filmsequenzen, in denen plötzlich einer aus dem Hintergrund schießt. Und ich kenne sie aus Geschichtsbüchern, die berichten, dass danach irgendwer wieder irgendwas war. Auch die Holländer der siebziger Jahre mit Johan Cruyff habe ich nicht spielen sehen; ihr Totaalvoetbal ist mir ein abstrakter Begriff, keine konkrete Erinnerung.

Eine immerhin vage Erinnerung habe ich an den futebol arte, den Brasilien mit Zico und Sócrates in den achtziger Jahren spielte. Ich meine mich an die Fassungslosigkeit zu erinnern, mit der ich die größte Tragödie dieser Mannschaft verfolgte: Es war die Zwischenrunde der WM 1982, im letzten Gruppenspiel ging es gegen eine ultradefensive italienische Mannschaft. Den Brasilianern hätte ein Remis genügt, und doch konnten und wollten sie nicht anders als munter drauflos zu stürmen und wurden mit 2:3 ausgekontert.

Meine Vorstellung vom guten und schönen Fußball – nicht dem eines Einzelnen wie Diego Maradona oder Zinédine Zidane, sondern dem eines Teams – blieb also ein Phantasma. Oder freundlicher formuliert: eine Utopie ohne empirische Grundlage.

Dann aber kam Spanien.

Isabel Lott
Deniz Yücel

ist 38 und leitet das EM-Team der taz.

Spanien!

Und ich hatte das Glück, sie zu sehen (und natürlich den FC Barcelona, was weitgehend dasselbe und der hier mitgemeint ist.) Sollte mich nie wieder eine Mannschaft derart verzücken, ich würde mich nicht grämen. Denn ich habe Spanien erlebt. Für ein Menschenleben ist das nicht schlecht.

Spanien hat alles verändert

Diese Mannschaft mit Casillas und Arbeloa und Piqué und Ramos und Alba und Busquets und Xavi und Xabi Alonso und Silva und Iniesta und Fàbregas (und eigentlich auch mit Puyol und Villa), diese Mannschaft also hat, wie Peter Unfried vor zwei Jahren in der taz schrieb, „unser Denken und unser Sprechen über Fußball verändert“. Und zweifelsohne steht sie in einer Reihe mit Zicos Brasilianern, Cruyffs Holländern und Puskás’ Ungarn.

Im Gegensatz zu diesen aber haben die Spanier große Titel gewonnen. Für romantische Heldengeschichten eignen sie sich also nicht. Sie sind Odysseus, nicht Achill; Castro, nicht Che; Harry und Sally, nicht Romeo und Julia. Wir erinnern uns: Wahre Helden sind nicht jene, die den Tyrannen besiegen und die Prinzessin heiraten, um hernach alt, glücklich und zuckerkrank werden. Wahre Helden scheitern; sie bleiben unglücklich und unvollendet.

Aber wer braucht schon Helden?

Die Spanier sind etwas Besseres. Sie verkörpern eine postheroische, eine zivilisierte Gesellschaft. Und zwar nicht nur, weil sie zwei Titel hintereinander gewonnen haben und nun, wenn sie abermals auf Italien treffen, die Chance haben, als erste Mannschaft der Welt drei bedeutende Turniere hintereinander zu gewinnen.

Kollektiv und Genie

Sie verkörpern auch deshalb das Postheroische, weil ihre Stärke auf einer kollektiven Ästhetik des Zusammenspielens beruht. Sie haben ihre offensichtlichen Nachteile – die fehlende Athletik, die chronische Abschlussschwäche, die sie auch schon mit Villa im Sturm hatten – kompensiert oder gar zu Stärken umgewandelt. Ihr Spiel ist nicht deshalb überlegen, weil sie ein Tor nach dem anderen schießen würden; ihre Stärke kommt aus ihrem Passspiel, eine kollektive Kraft, die sich erst im Laufe des Spiels entfaltet, selbst wenn dies, wie im Halbfinale gegen Portugal geschehen, bis zur Verlängerung dauert.

Und noch etwas macht aus den Spaniern eine gelebte kommunistische Utopie im edelsten Sinne des Wortes: Ihr Kollektivismus ist keine gleichmacherische Diktatur des Mittelmaßes, die jede Individualität wegbeißen würde. Bei ihnen ist das Kollektiv die Voraussetzung, dass sich das Genie entfalten kann – und umgekehrt. Wie könnte die Genialität eines Xavi zur Geltung kommen, wenn es keine Abnehmer für die unglaublichen 136 Pässe gäbe, die er gegen Irland gespielt hat?

Den Ball laufen und den Gegner schwitzen lassen

Eine solche Mannschaft kann gar nicht vom Können eines Einzelnen abhängig sein und sie ist es auch nicht (Puyol und Villa fehlen, und gegen Portugal fehlte Xavi faktisch leider auch). Deswegen sind die Mitglieder dieser Mannschaft Künstler, keine Stars. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, hätte Marx gesagt.

Die im modernen Fußball gültige Norm, wonach die Verteidigung in der Offensive beginnt und der Angriff in der Defensive, beherrschen die Spanier ohnehin besser als jedes andere Team der Welt – die Aufhebung der klassischen Arbeitsteilung. Ihre historische Tat besteht darin, dass sie, Sergio Ramos vielleicht einmal ausgenommen, den Fußball von dessen hässlichen, brutalen und gewöhnlichen Ursprüngen befreit und zu einer kollektiven Kunstform verwandelt haben.

Sie lassen den Ball laufen und den Gegner schwitzen. Und, ja, sie neigen dazu, den Ball in endlosen Stafetten ins Tor zu tragen. Aber was bedeutet das? Sie setzen Geduld gegen Willen, Spielfreude gegen Kraft, Schönheit gegen den Fetisch der Effektivität. Manchmal, in extremen Momenten, bekommt man den Eindruck, sie schießen deshalb nicht, weil sie dem Ball nicht wehtun wollen. Wann hat man je so viel Sanftheit bei einem Fußballspiel gesehen? Kein Wunder, dass sich die beste Frauenmanschaft der Welt, die japanische, am spanischen Spiel orienrtiert.

Und dahinter gibt es kein Zurück. Oder besser: Jeder Rückfall ist nichts geringeres als eine Konterrevolution.

Plötzlich gilt es als langweilig

Doch was noch bei der WM 2010 gefeiert wurde, gilt plötzlich als langweilig. Und weil einige zehntausend Kommentatoren in aller Welt das nun langweilig finden – weil sie, ihr Beruf verlangt es, etwas Neues erzählen müssen, was die Spanier aber nicht hergeben, eben weil diese nicht nach Drama, sondern nach Harmonie streben –, findet das Publikum die Spanier nun ebenfalls langweilig.

Und vermutlich gibt es einen weiteren Grund für die plötzlichen Antipathien: Die anderen Mannschaften hatten genug Zeit, die Spanier zu studieren und sich auf sie einzustellen. Spanien dominiert nicht mehr in derselben Weise wie noch vor zwei oder vier Jahren. Man kann sie zwar immer noch ihrer Schönheit willen verehren, aber nicht wegen ihres ungefährdeten Erfolges. Wenn das aber nicht geht, dann will das Publikum den Sieger fallen sehen. Die Spanier trifft der Missgunst der Mittelmäßigen.

Dabei liegt in dem Urteil, die Spanier hätten in der Vorrunde gegen Italien und Kroatien oder gar im Halbfinale gegen Portugal eine schlechte Leistung geboten, eine dreiste Verachtung für die Leistung der Portugiesen. Denn kein Team hat in den vergangenen sechs Jahren in einem wichtigen Spiel so gut gegen Spanien gespielt wie sie.

Und das nicht mit einer groben Verhinderungstaktik im Stile des FC Chelsea, sondern mit fußballerischen Mitteln – mit Mitteln freilich, die zurückbrachten, was die Spanier überwunden hatten: Mit Zweikämpfen. Mit hohen Bällen. Mit langen Bällen. Mit Eckstößen. Mit Freistößen. Mit Heldenfußball. Mit Gerangel und Gerempel. Mit Fleiß und Schweiß.

Niemand wird das besser wissen als die Spanier, die im Halbfinale in Donezk auf dem Platz standen. Der Schrecken, der nach dem Elfmeterschießen im Gesicht von Iker Casillas aufblitzte, oder die Erleichterung, die Sergio Busquets dann offenbarte, zeigen, dass diese Mannschaft nicht saturiert ist. Sie sind – möglicherweise muss man sagen: noch – nicht Odysseus und Castro und Harry und Sally und zuckerkrank. Sie wollen immer noch spielen. Und gewinnen, natürlich.

Auch das macht sie anbetungswürdig. Unfehlbar waren sie zum Glück ohnehin nie.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • IG
    Ingo G.

    Tut mir leid, Deniz, aber ich fand die Spielweise der Spanier schon 2010 langweilig. Und ich erinnere mich genau, daß der Kommentator (Marcel Reif?) damals sogar sagte, wäre das nicht ein Halbfinale einer Weltmeisterschaft, man würde wohl abschalten, weil es so öde sei. (Wobei damals auch die Deutschen mit ihrem hasenfüßigen Auftritt dazu beigetragen haben.)

     

    Ja, die Spanier spielen taktisch clever und diszipliniert. Aber gerade deshalb ist es langweilig. Es gibt kein überraschendes Element. Selbst bei Schüssen auf's TOr muß man nicht den Atem anhalten, die gehen nämlich meistens vorbei oder sind zu halten. Tore fallen meistens, wenn ein Spanier alleine auf den Torwart zuläuft oder ins leere Tor einschiebt. Und der Siegtreffer gegen Deutschland bei der WM 2010 fiel nach einer Standardsituation.

     

    Ich bin immer noch der Meinung, daß der Reiz am Fußball das Tore schießen ist. Und meistens schießt Spanien nur eins davon. Da fand ich Schweden-England viel interessanter. Technisch nicht so hochwertig, aber spannend und leidenschaftlich.

     

    Spiele, bei denen es hin und her geht, wo aus einem 2:1 am Ende ein 2:3 wird, sind eben unterhaltsamer. Ich würde sogar behaupten, wenn alle Mannschaften so spielten wie die Spanier, würde irgendwann keiner mehr Fußball gucken.

     

    Warum wurde denn in der vergangenen Saison der BVB so gefeiert? Der hat doch eher die gegenteilige Spielweise praktiziert.

  • U
    Uhupardo

    Wenn jemand ständig überweigend graues Bundesliga-Futter vorgesetzt bekommt, muss er wahrscheinlich so denken.

     

    Dieses Tiki-Takanaccio, das nicht etwa Angriffsfussball darstellt sondern "mittels Ballbesitz möglichst die Kugel vom eigenen Tor fernhalten", ist öde und nervt. Schauen Sie sich ein halbes Jahr lang jedes Spiel von Real Madrid an, dann verstehen Sie, was gemeint ist.

     

    http://uhupardo.wordpress.com/2012/06/20/em-2012-auf-ein-wort-don-vicente/

  • D
    Durruti

    Gracias!

  • Y
    Yepp

    "Sollte mich nie wieder eine Mannschaft derart verzücken, ich würde mich nicht grämen"

     

    Nun so ein Geseiere nachdem wieder mal Kommentare lang Deutschland Bashing betrieben wurde auf unterstem Niveau.

     

    Um mit Grönemeyer zu fragen:

     

    "Was soll das?"

     

     

    Ich komm inzwischen bei der taz aus dem Fremdschämen nicht mehr raus. Anspruchsvolle linke Presse geht anners, Kinners.

  • T
    T.V.

    und was wenn man das neue spanische System von Anfang an langweilig fand?

     

    Der Traum der hierarchielosen Gesell.. tschuldige Mannschaft, scheitert bereits an den unterschiedlichen Beträgen, die am Monatsende auch bei den Spaniern auf dem Konto landen. Manchmal ist das gegen den Strom in jedem Yücel-Artikel dann doch übertrieben.

     

    Außer das hier ist Satire die ich nicht verstanden hab (Auch Marx hätte eine Deutschlandflagge geschwenkt!).

  • T
    T.F.P

    Ein wunderbarer, fachlich fundierter Kommentar.

    Jedes Wort und jede Einschätzung trifft es auf den Punkt und räumt auf mit dem unsäglichem Geschwafel der scheinbaren Experten.

     

     

    Der Kommentar ist wie das Spiel der Spanischen Mannschaft, einfach Sensationell und auf höchstem ästhetischem Niveau.

  • DP
    Daniel Preissler

    Ein weiterer Beweis für das Können des Herrn Yücel, sobald er jeglicheN (antideutscheN) Zynismus und Irrationalität beiseite lassen kann.

    Toller Beitrag!

  • I
    Isolde

    Dieser Kommentar vom ohnehin anbetungswürdigen Deniz Yücel lässt mich die Vorfreude auf dieses Spiel noch mehr auskosten. Auch die Trübung durch die Aussicht auf den (von mir weggeschalteten) unerträglich däm****** b.reth* klart sich auf. In der Vorstellung kann man sich ja der Vision eines von D. Yücel kommentierten Finalspieles zwischen Spanien und Portugal (meine Präferenz) hingeben. Olè ragazzi !

  • B
    Besserwessi

    Was habt ihr mit Deniz gemacht !?

    Liegt der geknebelt und gefesselt irgendwo im Keller?