JAHRESWECHSEL: Letzter Anstand
Silvester im engen Zwergkaiser’s an der Wrangelstraße. Es ist kurz vor Ultimo oder in Zahlen 13.30 Uhr. Eine Mischung aus Kehraus, Armageddon und Winterschlussverkauf prägt die drückende Atmosphäre. Die Kunden drängen nicht durch die schmalen Gänge, denn sie stehen bereits beim Betreten des Ladens in der Kassenschlange. Wer weiter vorne einen Artikel in Eingangsnähe vergessen hat, ist faktisch verloren: Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu bezahlen und den Laden von neuem zu betreten.
Die Kunden eint, dass sie hier nur noch die letzten Sachen holen, die sie in diesem Jahrzehnt vergessen haben. „Last Eichhörnchen Tours 2000–2009“. Das bewährte „Können Sie mich vielleicht bitte vorlassen? Ich hab nur diese eine Flasche Sekt“ verbietet sich hier und heute von selbst. Ein Alki mit einer einzigen Flasche Bier versucht es trotzdem, das heißt, er versucht es nicht nur, er macht es einfach. Und kraft seiner Alkoholikerautorität, die vom Typus her eine mehr als nur vage Nähe zur guten alten Rücksichtslosigkeit erkennen lässt, kommt er auch gut damit durch. Vom Trinker lernen heißt Siegen lernen.
Wir Eichhörnchen haben Vanilleeis und tiefgefrorene Beeren vergessen, die nun im warmen Bauch der Kassenschlange langsam schmelzen. Zum Glück habe ich noch einen damenlosen Einkaufswagen gefunden – der verhindert diese ganz persönliche Klimakatastrophe im Kleinstformat. Der ursprüngliche Besitzer ist vermutlich ohne Einkauf verzweifelt geflüchtet, es stellt sich lediglich die Frage nach dem Wie: mit dem Hubschrauber durchs Flachdach oder huckepack an einen Alkoholiker gehängt? Am Ausgang wird die Mühe des Anstehens reich belohnt: Die junge Frau Zwergkaiser’s persönlich überreicht mir zum Abschied ein Büschel Grün (Glücksklee? Oregano?) plus Kaminkehrer in einem Töpfchen Erde. ULI HANNEMANN
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