20 Jahre Pogrom in Lichtenhagen: In Feindesland
Applaudierende Bürger und prügelnde Nazis: Sie waren die Mehrheit, aber nicht die einzigen. Auch Antifaschisten versuchten nach Lichtenhagen zu kommen. Vergeblich.
Die Erinnerung an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ist geprägt von den Bildern des wütenden Mobs, der fliehenden vietnamesischen Gastarbeiter und den applaudierenden Anwohnern. Doch waren sie nicht die einzigen, die in jenen Tagen vor dem Sonnenblumenhaus standen.
Aus Rostock selbst, aber auch aus Berlin und Hamburg angereist, versuchten diverse – vor allem dem aktiven Antifa-Spektrum zuzuordnende – Gruppen und Einzelpersonen in das Geschehen einzugreifen. Die Kommunikation lief dabei vornehmlich über das im Rostocker Stadtzentrum gelegene Jugendalternativzentrum, das JAZ.
Wie viele Menschen in den Tagen der Ausschreitungen versucht haben, sich dem Mob entgegenzsutellen und den Vietnamesen irgendwie zu Hilfe zu kommen, ist kaum mehr festzustellen. Die unvollständigen, fliehenden Erinnerungen einzelner Beteiligter liefern dennoch ein Bild von dem Eindruck, den die Pogrome und die eigene Hilflosigkeit gegenüber dem wütenden Mob hinterlassen haben.
Allein im rassistischen Alltag
Bereits Anfang August 1992 war Cornelia Kerth das erste Mal in Lichtenhagen. Damals für das Hamburger Antirassistische Telefon in Hamburg tätig, begleitete die heutige Bundesvorsitzende des VVN-BdA einen Asylbewerber zur Zentralen Aufnahmestelle (ZAST) im Sonnenblumenhaus.
Das größte Problem der Flüchtlingsarbeit war die damals „kaum vorhandene Anschlussstruktur in den neuen Bundesländern“, erinnert sich Kerth. Die nach Quoten aus Westdeutschland in den Osten verteilten Asylbewerber waren völlig alleine gelassen den Behörden und dem rassistischem Alltag ausgesetzt.
Die bis heute bekannten Bilder, der auf der Wiese vor der ZAST kampierenden Asylbewerber machten nachhaltigen Eindruck auf Cornelia Kerth. Ohne weitere Umstände nahm sie den Asylbewerber wieder mit zurück nach Hamburg. „Es wird ja oft gesagt wie haltlos die Zustände für die Anwohner waren, aber es war doch in allererster Linie eine Zumutung für die Menschen, die dort – nunja, leben kann man ja kaum sagen – die dort unterkommen mussten“, stellt sie heute fest.
Telefonketten und Konvois
Als Markus* und Matthias in Lichtenhagen eintrafen, beherrschte der Mob bereits die Wiese vor dem Sonnenblumenhaus. Beide kamen aus politisch aktiven Zusammenhängen in Berlin, Markus aus dem autonomen Umfeld, Matthias aus der Ostberliner Hausbesetzerszene.
Die in der linke Szene organisierten Berliner waren durch das Rostocker JAZ schon relativ früh auf die sich verschärfende Situation aufmerksam gemacht worden. Am Sonntag, den 23. August, dem zweiten Tag des Pogroms, fuhren Markus und drei Freunde direkt nach Lichtenhagen. Die im Sinne der damals üblichen Telefonketten für Notrufe bei Naziüberfällen erwarteten sie, vor Ort auf andere Menschen zu treffen, denen sie sich anschließen könnten, um das Haus zu schützen. Wie ernst die Lage wirklich war, erfassten sie dann erst in Rostock.
Dass die Situation in Lichtenhagen jegliches Eingreifen unmöglich machte, bestätigt Matthias. Er war in einem Konvoi von einem guten Dutzend Fahrzeugen nach Rostock aufgebrochen und erinnert sich, schon im JAZ, seinem ersten Anlaufpunkt, ein Bild von Angst und Überforderung vorgefunden zu haben.
Kurze Fahrten nach Lichtenhagen wurden schnell wieder abgebrochen und man entschied sich, für den Rest der Woche, im JAZ Solidarität zu zeigen und diesen zentralen Anlaufpunkt linker Jugendlicher durch starke Präsenz vor Überfällen zu schützen. Markus hingegen reiste bereits nach einem Tag frustriert wieder ab.
Freundschaftliche Loyalität
Viel weniger berührten die beginnenden Ausschreitungen Henning*, der damals Auszubildender in Rostock war und politisch nicht organisiert, den Sommer mit Surfen zubrachte. Dass er trotzdem aktiv wurde, sei mehr „freundschaftlicher Loyalität, als politischem Bewusstsein“ geschuldet gewesen, erinnert er sich.
Im JAZ nicht wirklich willkommen, da nicht links genug, nicht „linientreu“ wie er sagt, ließ er sich trotzdem von zwei Freunden noch während der Krawalle überreden, beim Plakatieren in Lichtenhagen gegen die Nazis zu helfen. „Ja, ich war plakatieren – im Herz der Finsternis“, sagt er heute lachend. Im Wesentlichen sei das „Abenteuerlust“ gewesen, meint er rückblickend.
In den Diskussionen dieser Tage und mit der zunehmende Eskalation vor der Haustür sei für ihn dann aber deutlich geworden, dass es nicht nur Spaß, sondern eben wichtig sei, irgendetwas gegen „diesen ganzen Blödsinn“ zu tun. So war es für ihn dann selbstverständlich, am Samstag, den 29. August 1992 an der bundesweiten Demo gegen die Nazigewalt teilzunehmen.
„Es war schockierend, wie viel Polizei dort war, und wie wenig in den Tagen davor. Da war ja niemand von denen zu sehen, als ich am ersten Tag dort gewesen war “, erinnert sich Henning. „Das war schon ein auffälliger Gegensatz“, sagt auch Cornelia Kerth, die zum Hamburger Konvoi aus Bussen und Privatwagen gehörte, die zur Demo anreisen wollten. Stundenlang wurden die Hamburger Aktivisten auf einem Parkplatz in Bad Doberan festgehalten, umgeben von einer Unzahl an gut ausgerüsteten Einsatzkräften.
Auf Schleichwegen zur Demo
Markus’ stärkste Erinnerung an die Demo, zu der er erneut aus Berlin angereist war, ist die an endlos lange Ketten von Mannschaftswagen auf der Stadtautobahn. Matthias erinnert sich ebenfalls daran, wie sie in Kleingruppen von den Ortskundigen aus dem JAZ auf Schleichwegen an den schweren polizeilichen Vorkontrollen vorbei zur Demo geschleust wurden.
Bleibender Eindruck ist für Matthias auch die völlig andere Situation vor und nach dem Porgrom in Lichtenhagen selbst: „Das war vorher ja wie ein offenes Stadtviertel. Alle Leute waren auf der Straße, es herrschte ein Volksfest, keine Polizei und ein Imbiss, der ja später abgefackelt wurde. Und am Samstag war dann alles wie ausgestorben“. Cornelia Kerth fasst die gespenstische Atmosphäre so zusammen: „Wir hatten den Eindruck, wir würden uns durch Feindesland bewegen.“
Am kommenden Samstag werden einige der Aktiven von damals wieder in Lichtenhagen zusammenkommen, ob immer noch im Feindesland, ist eine Frage der Perspektive. Markus, der noch nicht sicher ist, ob er zur 20-Jahre-danach-Demo fahren wird, resümiert: „Der Rassismus ist doch immer noch der gleiche, auch wenn er sich heute meistens anders äußert.“, und fügt an: „Im Osten und im Westen.“
* Namen von der Redaktion geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene