Der Künstler als Geldfälscher

KUNST & LEBEN Er war ein Fürst der Intrige, ein Possenreißer und Kommunist: der Surrealist Marcel Mariën. Nun sind seine Humoresken und Essays erschienen

Marcel Mariën war die schillerndste Persönlichkeit in der surrealistischen Künstler- szene in Belgien

VON KLAUS BITTERMANN

Der Surrealismus hatte in Deutschland nie ein besonders hohes Ansehen, und nach einer kurzen Konjunktur in den Siebzigern fristete er in der Verlagswelt schnell wieder ein Nischendasein. Die sowieso schon niedrigen Auflagen schrumpften und ließen auf ein eher marginales Interesse bei einem Publikum schließen, dem unter surrealistischer Kunst vor allem Salvador Dalí oder René Magritte einfiel. Gerade Magritte jedoch hat dieses Schicksal eigentlich nicht verdient, denn als Vertreter der in Deutschland weitgehend unbekannten belgischen Surrealistengruppe war er radikaler, als seine Bilder heute vermuten lassen.

Da kommt ein Buch gerade recht, das zwar nicht von Magritte ist, sondern von Marcel Mariën und das mit „Das Massengrab“ betitelte Humoresken enthält. Das sehr informative Nachwort des Übersetzers und Surrealismusexperten Heribert Becker widmet sich ausführlich der abwechslungsreichen Geschichte dieser Gruppe.

Marcel Mariën stieß erst 1937 zu den Brüsseler Surrealisten. Da war er gerade 17. Zwei Jahre später wurde er eingezogen, geriet in Kriegsgefangenschaft und wurde 1941 wieder entlassen. Mariën arbeitete in den Kriegsjahren unter anderem mit Léo Malet in der Widerstandsgruppe „La Main à Plume“ zusammen, ein nicht ungefährliches Unterfangen, das einige Mitstreiter nicht überlebten. Er gründete einen kleinen Verlag, organisierte Ausstellungen und reiste ab 1942 häufig nach Paris, um dort gefälschte Gemälde von Picasso, Braque, de Chirico und Klee zu veräußern, um durch den Verkauf die surrealistischen Unternehmungen zu finanzieren. Der Fälscher war kein Geringerer als Magritte, der damals selbst noch irgendwie über die Runden kommen musste.

Revolution in 365 Tagen

Marcel Mariën war in der Nachkriegszeit die schillerndste Persönlichkeit in der surrealistischen Künstlerszene in Belgien und ihr größter Aktivist. Er war „Lyriker, Erzähler, Pamphletist, Essayist, Maler, Objektkünstler, Collagist, Fotograf, Cineast, Verleger“, wie Heribert Becker aufzählt. Von ihm stammt die berühmte Zyklopenbrille, die in Wirklichkeit „L’Introuvable“ hieß, also der, die oder das Unauffindbare. Mit Breton in Paris gerieten sich Mariën und die belgischen Surrealisten bald in die Haare, weil sie kommunistisch orientiert waren, was in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus verständlich war, denn schließlich hatte die Sowjetunion den größten Anteil an der Niederschlagung des Nationalsozialismus, weshalb sie bei vielen Intellektuellen hoch im Kurs stand. Breton hingegen hatte seine schlechten Erfahrungen mit den Kommunisten schon in der Vorkriegszeit gemacht und war als Bewunderer Trotzkis, den er in Mexiko besucht hatte, alles andere als Stalin zugetan. Marcel Mariën jedoch war jung und sah in der Kommunistischen Partei die einzige Chance, der Kunst eine revolutionäre Perspektive zu geben, auch wenn umgekehrt die Kommunisten mit dem verrückten Künstler nicht viel anfangen konnten.

Mitte der fünfziger Jahre gab Marcel Mariën die Zeitschrift Les Lèvres Nues (Die nackten Lippen) heraus, in der auch Guy Debord und die Lettristen fleißig veröffentlichten, bevor sie dann 1957 die Situationistische Internationale gründeten. Im letzten Heft publizierte Mariën unter dem Titel „Théorie de la révolution mondiale immédiate“ eine Handlungsanleitung, wie sich eine „Weltrevolution in 365 Tagen“ inszenieren ließ, eine faszinierende Träumerei, die durchaus gut durchdacht war und mit den modernen Mitteln der Werbung durchgeführt werden sollte.

1963, als es ihn aus Gründen einer Amour fou nach Peking verschlagen hatte, wurde er schnell von seiner „Illusion, die mich so lange irregeleitet hatte“, geheilt, denn in China war das, was Marx sich unter einer freien Gesellschaft vorgestellt hatte, „im äußersten Stadium des Zerfalls angelangt“. Seine kommunistische Einstellung gab Marcel Mariën deshalb nicht auf.

Magritte im Sonderangebot

Neben den Humoresken, an denen ein wenig die Patina der Entstehungszeit haftet, finden sich in dem Buch noch „ein paar andere Texte“, und die haben es in sich, wie etwa der Bericht über den „Skandal von Notre-Dame“, als drei Lettristen vor der Ostermesse am 9. April 1950 die Kirche betraten und Michel Mourre in Mönchskutte des Dominikanerordens von der Kanzel herab den Gläubigen verkündete: „Wahrlich ich sage euch: Gott ist tot.“ Eine Aktion, die in klerikalen Kreisen für ebenso große Empörung sorgte wie im intellektuellen Milieu um Breton herum für Bewunderung.

1960 wirbelte Mariën mit dem Film „L’Imitation du cinéma“, der wegen seines blasphemischen Inhalts in Frankreich lange Zeit verboten war, selbst viel Staub auf. Und auch sein Bericht darüber, wie er versuchte, von Magritte und seinem Bruder gefälschte Banknoten unter die Leute zu bringen, brachte ihm viel Ärger ein, genauso wie eine überall verbreitete Bekanntmachung, der zu Ruhm und Reichtum gelangte Magritte würde „aus Anlass meiner großen Retrospektive im Kasino von Le Zoute“ seine Gemälde „für jeden Geldbeutel erschwinglich“ machen.

Marcel Mariën glich in seinen Aktionen eher einem Anarchisten als einem Kommunisten, einem Fürst der Intrige, einem Possenreißer, einem Chaoten, der gern am Pulverfass der herrschenden Ideologien zündelte, einem Meister des Zerwürfnisses, der keinem Streit aus dem Weg ging, einem Agent Provocateur, der gern die Bürger und die Religion beleidigte: einem Mann also, für den das lateinische Palindrom erfunden worden zu sein schien: In girum imus nocte et consumimur igni – wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt.

Dass solche außergewöhnlichen Menschen, die Kunst auf eine Weise betrieben wie die Anarchisten die direkte Aktion, im Kunstmarkt unbeachtet blieben, verwundert eigentlich nicht. Umso schöner, dass mit diesem Buch an ihn erinnert wird. Auch wenn Marcel Mariën nicht alles gelang und er sich häufig im Handgemenge mit den Themen seiner Zeit befand und deshalb nicht wirklich viel geschaffen hat, was auf dem Kunstmarkt als „bleibend“ bewertet wurde, so war sein Leben vielleicht selbst das Kunstwerk, das die Surrealisten und Situationisten anstrebten, als sie die Aufhebung der Kunst forderten und das Hinterlassen von gegenständlichen Kunstwerken inakzeptabel fanden.

Marcel Mariën: „Das Massengrab“. Karin Kramer Verlag, Berlin 2012, 192 Seiten, 18 Euro