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DIE WAHRHEITEine Erinnye namens Holger

Kolumne
von Joachim Schulz

„Oha“, sagte Raimund, als Theo das Café Gum betrat: „Sieht aus, als ob sich ein Bernhardiner über dir erbrochen hätte.“

Oha“, sagte Raimund, als Theo das Café Gum betrat: „Sieht aus, als ob sich ein Bernhardiner über dir erbrochen hätte.“ Unser Freund hatte einen großen Fleck aus braunem Schmodder auf der Hose und blickte Raimund an, als ob er gerade eine tragende Rolle in einer Tötungsfantasie mit ihm besetzte. Raimund hob beschwichtigend die Hände: „Okay, Spaß beiseite. Also, was ist geschehen?“ – „Holger hat wieder zugeschlagen“, knirschte Theo. „Und das da“, fuhr er fort und zeigte auf den Fleck, „war ein großer Kakao mit Sahne to go.“

Seit einigen Wochen fiel Theo andauernd den sonderbarsten Unglücksfällen zum Opfer. Mal stürzte in der Stadtbücherei ein Regal um und begrub ihn unter sich, mal fing der Hinterreifen seines Fahrrads plötzlich Feuer, und mal rollte ihm beim Joggen im Stadtpark unversehens eine Flasche zwischen die Füße, so dass er stolperte und Kopf voran in den Entengrützetümpel klatschte. Das Erstaunlichste aber war, das sich stets ein junger Bursche namens Holger in der Nähe befand, der ihm beim Löschen des Hinterreifens half und ihn aus der Entengrütze zog – zugleich, wie sich herausstellte, das Malheur aber auch verursacht hatte.

Natürlich glaubte Theo zunächst, dass das Bürschlein ihn mit voller Absicht plagte. Doch Holger war jedes Mal so zerknirscht über das Vorkommnis, dass es unmöglich schien, ihm eine tiefsitzende Bösartigkeit zu unterstellen. Anscheinend war er schlicht ein Schussel, und Theo hatte das Pech, eine rätselhafte Anziehungskraft auf ihn auszuüben. „Also ich“, sagte Raimund, „glaube ja mittlerweile, dass er eine Erinnye ist.“ – „Eine Erinnye?“ – „Jawohl! Denkt an Sartre, ’Die Fliegen‘, an Orest, der von den Racheengeln gejagt wird.“ – „Aber der“, sagte ich, „hat immerhin seine Mutter hingemeuchelt – was man Theo wohl nicht vorwerfen kann.“

„Dafür“, flüsterte Raimund, „hat er neulich Nacht eine von Petes heiligen Zigaretten gemopst. Ich wette, Pete hat es gemerkt. Und Pete ist Grieche und dürfte demnach beste Beziehungen zu den Olympiern haben!“ Ich blickte Theo entgeistert an. „Du hast was?!“ Theo wurde rot. „Ich brauchte noch eine für den Heimweg und hatte selber keine mehr. Ich …“

Jedes Frühjahr bekam Pete, der Gum-Wirt, der eigentlich Petris hieß, ein Päckchen aus seinem Heimatdorf. Es enthielt ein paar Schachteln Zigaretten, die Eleftheria, seine bildschöne Cousine, mit dem Tabak aus ihrem eigenen Garten höchstpersönlich für ihn rollte. Die Kippen stanken erbärmlich, aber Pete pries sie wie ein Göttergeschenk und hütete sie wie einen Schatz.

In diesem Moment bekam Theo sein Bier. Pete knallte es wortlos auf die Theke. „O ja“, flüsterte ich, „er hat es gemerkt! Also mach was, Theo!“ Theo räusperte sich. „Pete“, sagte er: „Ich möchte dich um Verzeihung bitten!“ – „Verzeihung? Wofür?“ – „Ich habe neulich eine von deinen Zigaretten geklaut.“ – „Und?“ – „Und ich könnte als Wiedergutmachung dafür eine Stunde lang Gläser spülen.“ – „Eine Stunde?“ – „Ähm … den ganzen Abend?“ – „Sehr gut, so soll es sein!“, dröhnte Pete und reichte ihm grinsend ein Handtuch. Seitdem ist Theo Holger tatsächlich nie wieder begegnet.

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