piwik no script img

Unterricht nach Ferien„Die Schule muss das kompensieren“

In den langen Sommerferien wird viel Stoff vergessen. Besonders benachteiligte Kinder verlieren den Anschluss, sagt Schulforscher Jörg Siewert.

Wie ging das noch mal? Ohne Wiederholung in den großen Ferien bleibt vom einst Erlernten nicht viel übrig. Bild: dpa
Bernd Kramer
Interview von Bernd Kramer

taz: Herr Siewert, viele Lehrer klagen, dass sie jetzt nach den Sommerferien wieder bei null anfangen müssen. Machen Ferien dumm?

Jörg Siewert: Was man vor den Ferien gemacht hat, kann man im neuen Schuljahr nicht als bekannt voraussetzen. Gerade mit Mathematik kommen die Schüler in den Ferien ja kaum in Berührung. Ich habe in meiner Zeit als Mathematiklehrer darum immer erst mit neuem Stoff angefangen, ehe ich den alten wiederholt habe. Dass Ferien generell dumm machen, kann man nicht sagen.

Sondern?

Die einen fallen in der langen Phase der Nichtbeschulung in ihrer Kompetenzentwicklung zurück, andere stagnieren. Einige lernen sogar noch etwas dazu. In den USA gibt es eine breite Forschung genau zu dieser Frage, auch weil immer wieder über eine Verkürzung der drei Monate langen Sommerferien debattiert wird: Was passiert in den Ferien? Das Ergebnis: In den USA ist es schichtspezifisch, wie viel während der schulfreien Monate vergessen wird, es gibt einen schichtspezifischen Ferieneffekt.

Das heißt: Die Akademikerkinder haben Mathe nach den Ferien noch halbwegs drauf – die Arbeiterkinder fallen zurück?

Das zeigen die Ergebnisse in den USA. Und der Befund ist ja auch plausibel: Die Akademikerfamilien haben bessere Möglichkeiten, ihre Kinder während der Sommermonate zu unterstützen. Es gibt in den USA etwa die Tradition der Feriencamps, sozusagen Ferienlager mit Nachhilfeunterricht. Das kann sich nicht jeder leisten. Uns hat interessiert, ob auch in Deutschland während der Sommerferien die Kompetenzschere aufgeht.

Jörg Siewert

Jahrgang 1966, ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Siegen. Vorher hat er als Lehrer für Mathematik und Pädagogik gearbeitet.

Was in den USA gilt, gilt wohl auch in Deutschland.

Überraschenderweise haben wir in unserer Studie festgestellt, dass es hier bei uns anders ist. In den Sommerferien stagniert die durchschnittliche Mathematikkompetenz beider Schülergruppen: Im Durchschnitt dümpeln die Schüler, deren Eltern maximal den Hauptschulabschluss haben, genauso vor sich hin wie die Schüler, deren Eltern studiert haben. Aber sobald die Schule wieder losgeht, eilen die Akademikerkinder den bildungsfernen Schülern davon. Die bildungsfernen Kinder haben während der Schulzeit nur sehr geringe Kompetenzzuwächse, die Schüler aus bildungsnahen Elternhäusern machen dagegen signifikant größere Schritte nach vorn.

Das klingt brisant. Die Schule verschärft die Kluft zwischen Bildungsbürgertum und Unterschicht noch, anstatt sie zu verringern.

Offenbar. Wobei die wirklich entscheidende Frage übrigens allein der Bildungsabschluss der Eltern ist. Das Einkommen spielt keine Rolle und auch zwischen Deutschstämmigen und Migranten beobachten wir während der Schulzeit kein Auseinanderdriften.

Längere Ferien würden unser Bildungssystem also gerechter machen?

Nein, das wäre ja eine völlig absurde Schlussfolgerung. Denn dann würde gar nichts mehr gelernt. Es gibt Studien, die zeigen, dass es gerade in Mathematik den Input der Schule braucht, damit es Kompetenzzuwächse gibt. Prozentrechnen und das Lösen von Gleichungssystemen lernt man nicht so nebenbei.

Aufgabe der Schule sollte es doch sein, allen gleich gute Chancen zu geben, unabhängig von ihrer Herkunft. Ein besonders gutes Zeugnis kann man ihr dafür nicht ausstellen.

Ja.

Warum macht die Schule Kompetenzunterschiede größer und nicht kleiner?

Gute Frage. Wir haben das in unserer Studie nicht explizit untersucht, weil wir ja aufgrund der amerikanischen Ergebnisse damit gerechnet hatten, dass die Schere sich in der Ferienzeit öffnet. Ich würde Folgendes vermuten: Sobald die Schule losgeht, wird gewissermaßen die Unterstützung der Eltern aktiviert, die in den Ferien brachlag. Das ist ja auch nicht verkehrt: Ich kann und will niemandem verbieten, sein Kind zu fördern. Nur dass das bei den einen zum Erfolg führt und bei den anderen nicht. So ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht, wenn ich an mich und meine Familie denke.

Inwiefern?

Meine Frau ist Grundschullehrerin, ich bin Wissenschaftler. In den Ferien lassen wir unsere beiden Jungs mit der Schule in Ruhe. Die sollen nicht Mathe pauken, sondern die Wochen nutzen, um sich zu erholen und ganz andere Erfahrungen zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass viele Akademikereltern so handeln. Deswegen gibt es in den Ferien auch keinen Kompetenzzuwachs bei den Schülern aus bildungsnahen Familien.

Wenn die Schule wieder losgeht und ihre Söhne über den Hausaufgaben verzweifeln …

Dann setzen wir uns dazu und helfen, genau. Wir sind dann wieder dran an dem, was in der Schule passiert.

Eltern, die nicht Mathematik studiert haben, schauen dagegen den ganzen Tag Privatfernsehen und interessieren sich kein Stück für das, was ihr Nachwuchs treibt?

So ein Klischee möchte ich nicht bestätigen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen: Es hat nichts mit dem Wollen zu tun, sondern mit dem Können. Es müsste Aufgabe der Schule sein, das zu kompensieren.

Und wie?

Sie müsste gezielt Schüler fördern, die keine ausreichende Unterstützung zu Hause haben. Ein viel versprechender Ansatz wäre daneben, die Eltern stärker ins Boot zu holen, über die Elternsprechtage hinaus. In Kanada gibt es das längst: Da werden Eltern regelmäßig in die Schule geladen und darin beraten, wie sie ihre Kinder unterstützen können.

Unterricht für die Eltern also?

So in der Art. Aber selbst wenn das gut funktioniert, wird es immer Eltern geben, die das nicht können. Deswegen ist es mindestens genauso wichtig, die Lehrer dafür zu sensibilisieren, dass sie Schüler benachteiligen, wenn sie einfach stillschweigend die Mitarbeit der Eltern voraussetzen oder gar initiieren. Unter Lehrern in Deutschland ist die Meinung sehr verbreitet, dass ein Teil der Bildungsarbeit von den Eltern geleistet werden müsse. Wenn das aber nicht gut geschieht, wird das von der Schule nicht kompensiert, sondern hingenommen. Ich habe meine Forschungsergebnisse zum Beispiel jüngst mit einer Gruppe Gymnasialreferendaren diskutiert und sie mit meinem vorsichtig formulierten Vorwurf konfrontiert …

Und?

Die fanden das ziemlich merkwürdig und meinten einhellig: Natürlich müssen auch die Eltern mithelfen, Schule geht nicht ohne Eltern.

Haben Sie sie vom Gegenteil überzeugen können?

Nein, ich befürchte nicht. In deren Augen war ich wohl der Bildungswissenschaftler mit seltsamen Vorstellungen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • N
    Noncommittal

    Den Kindern nicht helfen koennen? Nicht helfen wollen?

     

    Ich habe zwei technische Studienabschluesse und arbeite Vollzeit. Wann, bitte, soll ich meinem Kind helfen? Ich bin nach der Arbeit geschafft, und der Haushalt muss auch gemacht werden.

     

    Die Vorstellung, Eltern muessen den Kindern helfen, ist voellig am Geist der Zeit vorbei. Das geht nur, wenn die Muetter nicht arbeiten, oder nur Halbzeit, was bei den Akademiker-Familien, die ich kenne, auch _durchgehened_ der Fall ist. Sonst kommen die Kinder mit der Schule nicht zurecht.

     

    Ich bin mir nicht sicher, ob mein Kind das alleine schafft, aber die Noten waeren bestimmt besser, wenn ich helfen wuerde. Nur wann?!!!

     

    Die Haltung der Lehrer ist eindeutig: helfen. Sie erwarten und verlangen von den Eltern ganz schoen viel. Es macht mich wuetend, aber irgendwie bin ich mit meiner Wut ziemlich allein. :(

  • KS
    Katja S.

    Lehrer können nicht alles "kompensieren". Das geht schlicht und ergreifend nicht.

    Und ganz ehrlich: Man kann auch nicht ständig auf biegen und brechen versuchen, jeden zum Abitur zu bringen und aus jemandem etwas "rauszuholen", wo es eben nichts rauszuholen gibt.

  • KK
    Karl K

    Lost in translation? 2.0

     

     

    Schlau?

    Auhauerha!

    Das Beste ist die schöne Frage von Bernd Kramer:" Längere Ferien würden unser Bildungssystem also gerechter machen?"

    Wat höbt we lacht! Tom Sawyer, Huck Finn lassen grüßen. Nix geht über eine Rohrkolbenpfeife - gestopft oder nicht.

     

    Schön ist, daß Herr Siewert sich spät, aber dennoch in die Karten gucken läßt! Tenor:… nö, meine Kids laß ich in den Ferien abhängen, mal den Nebel aus dem Kopf blasen. Voll korrekt.

    Alles andere ist regelmäßig Kidsquälerei, stratfbar nicht unter…

    Segelt also hoch am Wind: selber Wein saufen, aber Wasser predigen.

    Sorry, ich untersuch ja bloß.

    Irgendswie ja schwer wissenschaftlich, über die positive Funktion - Integration -  eines Gegenstandes zu forschen, den selbst man offensichtlich fürn Arsch hält.

     

    Egal. Schön auch am Ende.

    Lehrer, die ihren Job nicht ordentlich machen, ja gründlich mißverstehen, schieben andere, speziell die Eltern, vor's Loch: 'wie, der Sohn von dem Kümmeltürken schnallt die Kurvendiskussion nicht? ja da soll sich Vater Ali mal auf den Allerwertesten setzen. Is doch eh arbeitslos.'

    Er war Lehrer und sie … geschenkt.

     

    Einfach mal registrieren - auch an die Adresse dieser so bildungsbeflissenen Berufseltern - : nach 45 wurde in vielen Klassen bestimmter Stadtviertel der Volksschulen mehrheitlich russisch, polnisch und lettisch gesprochen.

    So eine engagierte Lichtgestalt wie mein Klassenlehrer Reichwald schaffte es in seiner geduldigen Art, allen soweit was mit auf den Weg zu geben, daß u.a. mein lettischer Kumpel Olga später das Abitur schaffte.

    Daß meine Penne diese schulische Herkunft mit zweimal Backenbleiben quittierte, steht auf einem anderen, eher bräunlich-elitärem Blatt.

     

    Nachbestuhlung -,während der Ferien!?

    Ich glaub, es hackt. Ausnahmsweise um Sitzenbleiben zu Kompensieren in der Pubertät. Aber ansonsten - wie Siewert - der helle Wahnsinn. Die Kids sollen den Kopf auslüften. Dann paßt auch wieder was rein.

     

    Das engagierte Lehrer einen brettharten Job haben - keine Frage - das haben andere aber auch.

    Eltern soweit es geht mit den jeweiligen Besonderheiten vertrautmachen, auch ok.

    Sie sind aber keine Hilfslehrer und sollen es auch nicht sein.Punkt.

     

    Hinzu kommt die Akzeleration des Wissens.

    Meine 03/04 geborenen Eltern konnten was zu Latein sagen, was aber weiß so ein Altsprachler über die Funktion eines Transistors? Schwer gelacht - wohl wieder mal gepennt,hm? - hätte der Alte, wenn ich damit um die Ecke gekommen wäre. Zu recht.

    Ende des Vorstehenden.

  • N
    Nils

    Ich denke, kaum ein Lehrer erwartet, dass Eltern ihren Kindern noch mal die tenses in Englisch oder die Funktionsuntersuchung in Mathe erklären. Das ist für den Bildungserfolg der Kinder nicht ausschlaggebend. Wichtig ist, welchen Stellenwert schulische Leistung und Bildung, auch allgemeine Bildung, im Elternhaus hat. Herrscht diesbezüglich ein positives Klima zuhause (durch Bücher im Regal, durch Museumsbesuche, durch Zeitungslektüre, durch bildende Fernsehsendungen, durch bildende Nutzung von neuen Medien, durch Gespräche über bildungsrelevante Themen, durch soziale Bildung in Sportvereinen, durch körperliche Gesunderhaltung durch gesundes Essen und Bewegung an der frischen Luft,...), sind die Chancen auf Lernerfolge in der Schule auch höher.

     

    Das können alle Eltern leisten, und das müssten Eltern nach meinem Dafürhalten auch leisten. Den Schulstoff vermitteln die Lehrer, und wenn es nicht (in vielen wiederholenden Anwendungen) im primären Unterricht funkt, haben Schulen auch genügend Förderangebote, um einzelne Schwächen zu beheben, völlig ohne teure Nachhilfe... wenn es denn einzelne Schwächen sind, und nicht eine Totalüberforderung auf allen schulischen Gebieten, welche ihren Ursprung dann eventuell an einem Mangel in den von mir oben skizzierten Bereichen haben.

  • KN
    keine name ist auch ein name

    und demnächst soll die schule auch noch die kinder austragen...

    das problem was wir hier in deutschland haben ist, dass alle fordern, das der nachwuchs, ob er nun das potential hat, oder auch nicht, mathe studieren soll, das geht schlichtweg nicht,

    wenn man aber an daran was ändern will, das kinder aus bildungsfernen schichten ihr potential entdecken und reifen lassen können (dumme eltern heißt ja noch lange nicht, das die kinder dumm sind, weil nen dipl.-math, aus einem hart IV haushalt ist mir auch bekannt)

    dann sollte man die ganztagsbetreuung in der schule wieder einführen...

  • C
    Ceres

    Ich werde selber demnächst Referendar und kann die Beobachtungen bestätigen.

    Die Ferien sind in den Köpfen der Kinder immer ein Resetknopf. Da kann man noch soviel machen, beschäftigen sich die Kinder nicht konstant mit dem Stoff wird es schlicht verdrängt.

    Nur frage ich mich warum Herr Siewert dies praktisch als natürlich gegeben hin nimmt und dann wieder mit einem Altbekannt Thema anfängt.

    Warum soll man nicht überlegen, wie man Kinder auch innerhalb der Ferien "fitt" hält?

     

    Nein, statt dessen kommt wieder die Keule von den armen Eltern die nichts dafür können, dass sie ihre Kinder nicht unterstützen.

    Sorry aber meine Eltern kommen auch nicht aus "hohen Akademikerkreisen" trotzdem hat es ausgereicht die Hausaufgaben zu kontrollieren, darauf zu achten das gelesen wird und ein Besuch im Museum war auch drin.

    Ich und auch viele Lehrer erwarten keinesfalls, dass Eltern mit ihren Kindern über Stochastik, Thermodynamik und Englische Literatur stundenlang brüten. Aber ein bisschen Interesse am Kind und eine vernünftige Disziplin/Arbeitsmoral, dass kann man finde ich schon erwarten.

     

    Übrigens auch wenn es Herr Siewert nicht wahrhaben will. "Nicht können" ist meistens eine Ausrede für "nicht wollen". Wer gibt den schon gerne zu, nach dem 8 Stunden Tag lieber zu entspannen als mit dem Kind die Hausaufgaben durchzugehen...

  • W
    Waffle

    Ich entstamme einer sog. "bildungsfernen" Familie. Mutter, Vater, Stiefvater, Onkel, Tanten, alle Verwandenten maximal Hauptschulabschluss. Die können nicht helfen. Die waren in der Grundschule schon mit der Mengenlehre erfordert. Die sprachen kein Englisch, konnten dort schon in der 5. Klasse nicht helfen. Beherrschten die Rechtschreibung nicht, was Erörterungen und Interpretationen sind, wussten sie überhaupt nicht. Da gibt es keine Hilfe, da hilft auch kein helfen wollen. Ein Kind, dass nicht von alleine alles versteht und lernt, hat keine Chance. Die Kinder wohlhabender Familien werden mit Nachhilfe durchgedrückt. Die kann sich nur nicht jeder leisen.