Türkischer Botschafter in Deutschland: „Wir haben mehr Fragen als zuvor“
Noch immer fühlen sich viele Migranten bedroht, sagt der türkische Botschafter Hüseyin Karslioglu. Der deutsche Staat könne mehr dagegen tun.
taz: Herr Karslioglu, Sie sind seit Januar als Botschafter der Türkei in Deutschland. Zu Ihren ersten Amtshandlungen gehörte es, am Staatsakt für die Opfer der NSU-Terrorzelle, unter denen mehrere türkische Staatsbürger waren, teilzunehmen. Wie erklären Sie es sich, dass diese Morde so lange unaufgeklärt bleiben konnten?
Hüseyin Karslioglu: Das können wir uns nicht erklären. Das müssen sich die Deutschen und die deutschen Behörden selbst erklären.
Wie beurteilen Sie den Stand der Aufklärungsbemühungen?
Wir haben jetzt mehr Fragen als zuvor. V-Leute beim Thüringer Heimatschutz, Verfassungsschutzleute, die in Kassel am Tatort waren, geschredderte Akten in verschiedenen Behörden – das wirft ständig neue Fragen auf.
Glauben Sie, dass die vielen Untersuchungsausschüsse etwas bringen?
Ich hoffe es.
geboren 1956 im mittelanatolischen Yozgat, kam 1962 nach Deutschland und verbrachte seine Grundschuljahre in Baden-Württemberg. Dorthin war sein Vater nach dem türkischen Militärputsch im Mai 1960 geflüchtet.
Der Diplomat studierte Politikwissenschaften in Ankara und vertrat die Türkei unter anderem in Sydney, Teheran, Oslo und Baku.
Vor seinem Amtsantritt in Deutschland war Karslioglu Büroleiter des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül.
Zwei Drittel aller Einwanderer aus der Türkei sind türkische Staatsbürger, rechtlich gesehen also Ausländer. Hält die Türkei zu sehr an ihren Staatsbürgern fest?
Wir wollen, dass sich die Menschen aus der Türkei hier gesellschaftlich engagieren, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Aber Integration ist keine Einbahnstraße. Waren die Opfer der NSU nicht integriert? Trotzdem wurden sie ermordet. Ich glaube, dass die deutsche Seite da mehr tun muss als die türkische – indem sie den Menschen Mut macht und dafür sorgt, dass sie sich hier sicher fühlen.
Das ist seit den Morden des NSU nicht mehr so?
Nein, viele Migranten fühlen sich bedroht. Sie schauen sich um, ob ihnen jemand mit einem Kanister in der Hand ins Haus folgt. Die Menschen melden sich bei uns, wenn sie Hetzpost in ihrem Briefkasten finden, in ihrem Keller ein Brand gelegt oder im Treppenhaus ein Kinderwagen angezündet wurde. Wir führen bei uns eine Liste mit solchen Delikten, die meistens nicht in die Presse kommen.
Was kann Deutschland tun, um das Vertrauen der Migranten in den deutschen Staat wieder zu stärken?
Mehr Partizipationsmöglichkeiten schaffen. Merkwürdige Kampagnen wie diese Vermisstenanzeigen …
… mit denen Innenminister Friedrich die Radikalisierung junger Muslime bekämpfen will…
… tragen jedenfalls überhaupt nichts zur Integration bei. Die Zahl der rechtsradikalen Straftaten ist um ein Vielfaches höher als die der sogenannten islamistischen Delikte. Viele fragen sich, warum solche Plakate nicht mit der Zeile versehen werden: Wir sehen unseren Sohn Hans nicht mehr, vielleicht ist er in der rechtsradikalen Szene oder bei der NSU-Zelle?
Das Innenministerium hat die Plakatkampagne vorerst gestoppt. Haben Sie schon mit Herrn Friedrich darüber gesprochen?
Ich werde ihn demnächst treffen und das ansprechen. Wir sagen allen türkischen Moscheevereinen, dass sie ihre Türen vor Extremisten verschließen und nicht einmal mit ihnen reden sollen – weder mit Salafisten noch mit Hetzern wie Pro NRW oder Pro Deutschland. Aber wir würden es begrüßen, wenn auch die deutsche Politik mehr tun würde.
Zum Beispiel?
Seit der Mordserie ist bei vielen der Wunsch, neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft zu behalten, wieder stärker geworden – die Menschen möchten einfach diese Sicherheit haben. Ich würde sowohl die doppelte Staatsbürgerschaft wie auch das kommunale Wahlrecht begrüßen.
Die hiesigen Migrantenorganisationen fordern das schon seit 30 Jahren. Wie sehen Sie deren Rolle?
Die Organisationen finden bei den Behörden nur dann Gehör, wenn es denen gelegen kommt. Nehmen Sie diese Vermisstenanzeigen: Man sagt, dass die muslimischen Organisationen über diese Kampagne informiert worden seien. Das stimmt: Man hat ihnen gesagt, dass man eine solche Kampagne starten will. Aber wie ich höre, hat man ihnen nicht die endgültige Version des Plakats gezeigt.
Die Einwanderer aus der Türkei bestehen aus sehr unterschiedlichen Gruppen – Türken, Kurden, Aleviten, Sunniten …
Ja, und das ist auch gut so.
Wie gehen Sie mit dieser Vielfalt um?
Ich bin der Botschafter aller, die sich der Türkei verbunden fühlen. Für mich sind alle Menschen gleich, das schreibt mir schon mein Glaube vor – ob sie Türken sind oder nicht, schwul oder lesbisch, gläubig oder ungläubig. Für mich macht es keinen Unterschied, wer an was glaubt, deswegen habe ich auch die armenische und die aramäische Gemeinde besucht.
Die türkisch-sunnitischen Organisationen in Deutschland rücken stärker zusammen. Hat das mit der religiösen AKP-Regierung in der Türkei zu tun?
Auch die Menschen hier haben sich geändert. Man ändert sich in einer Gesellschaft, die demokratische Werte pflegt. Auch eine Organisation wie Milli Görüs ist nicht mehr das, was sie in den 70er und 80er Jahren war – sie hat sich geändert und ist demokratisch geworden.
Aleviten sehen diese Annäherung mit Skepsis. Was sagen Sie denen?
Wenn sich die Menschen zusammentun, was kann man dagegen haben? Ich schreibe niemandem etwas vor. Und auch die Aleviten sind ja untereinander gespalten: Die einen glauben, sie gehören dem Islam an, die anderen sagen, sie seien eine ganz andere Religion. Wenn sie sich so empfinden, dann ist das so. In Deutschland werden sie ja als eigene Gruppe mit eigenem Religionsunterricht akzeptiert.
Sie haben selbst große Teile Ihrer Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht. Wie kam es dazu?
Mein Vater hat die Türkei nach dem Militärputsch Anfang der 60er Jahre verlassen, weil er sich dort nicht mehr wohl fühlte. Er blieb in Deutschland und wurde deutscher Staatsbürger. Seit 1975 lebt er in Regensburg.
Und Sie?
Ich pendelte – erst zurück in die Türkei, dann wieder nach Deutschland, dann habe ich in Istanbul ein deutschsprachiges Internat besucht.
Was sagt Ihr Vater dazu, dass sein Sohn heute Botschafter der Türkei in Deutschland ist?
Anfangs war er wenig begeistert. Ich habe ihm gesagt: „Du hast immer über die türkischen Diplomaten geschimpft, jetzt ist einer da, der sich mit Deutschland auskennt, Deutsch kann und ein Gefühl für das Leben hier hat.“ Das fand er okay.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Jugend in Deutschland?
Die besten! Ich kam Anfang 1962, da war ich sechs Jahre alt, und ging hier auf die Grundschule. Die schönsten Erinnerungen habe ich an „Oma Frieda“ – sie war Witwe, ihr Mann und ihre zwei Söhne waren im Zweiten Weltkrieg umgekommen. Wir waren ihre Untermieter, und sie war so etwas wie eine Ziehoma für mich – wir haben mit ihr Kreuzworträtsel gelöst, Fernsehen dagegen mochte sie nicht. Ich erinnere mich auch gut an meinen Nachbarn Harald, der mir beibrachte, wie man die Reifen vom Fahrrad flickt, an meinen Freund Andreas und dessen Bruder Thomas, der 1.-FC-Köln-Fan war.
Wie hat diese Erfahrung ihren Blick auf die Türken in Deutschland geprägt?
Ich habe auch später viel Zeit in Deutschland verbracht und hier in den Ferien gearbeitet – auf dem Feld bei dem Bauern, bei dem mein Vater wohnte, oder im Krankenhaus. Und ich habe Landsleuten als Dolmetscher zu Behörden begleitet und weiß, wie sie dort behandelt wurden – auch von türkischen Konsulaten. Was ich da erlebt habe, hat mich auch motiviert, in den diplomatischen Dienst einzutreten.
Inwiefern?
Die Menschen hier wurden von den Mitarbeitern in den Konsulaten geduzt, herumkommandiert und verachtet. Die Staatsdiener benahmen sich nicht wie Diener, sondern wie Herren.
Hat sich das verändert?
Ja – den Botschaftsmitarbeitern heute wird beigebracht, dass man die Menschen nicht wie Bittsteller zu behandeln hat. Und die hiesigen Gastarbeiter von einst haben heute ein höheres Bildungsniveau und lassen sich auch nicht mehr alles gefallen.
Sie unterscheiden sich auch äußerlich stark von Ihren Vorgängern. Seit wann tragen Sie Ihren Ohrring?
Seit ein paar Jahren. Ich trage ihn auch als Ermahnung an mich selbst. Früher, im Osmanischen Reich, trugen die Sklaven Ohrringe, um sie von den freien Menschen zu unterscheiden. Auch manche osmanische Sultane und turkmenische Schahs trugen Ohrringe, um sich daran zu erinnern, dass sie ein Diener Gottes und des Volkes sind. Auch ich bin ein Diener des Volkes.
Wegen Ihrer langen Haare wurden Sie in Zeitungsartikeln schon häufiger mit einem Rockstar verglichen. Wie passen Sie damit zur religiös-konservativen AKP, der Sie ja ihre Karriere verdanken?
Ich bin kein Parteimitglied. Diplomaten dienen dem Staat, nicht einer Partei. Und Gitarre spielen kann ich auch nicht – würde ich aber gerne können!
Sie waren ein enger Berater von Präsident Abdullah Gül. Wie eng ist Ihr Verhältnis heute?
Wir telefonieren ab und zu – etwa wenn ich ihn bitte, mehr Druck zu machen, damit die geplante deutsch-türkische Universität vorankommt.
Hören Sie denn wenigstens Rockmusik?
Wenig, eher Jazz oder Klassik. Meine Lieblingsseite auf meinem Tablet-PC ist die, auf der man sich alle Radiostationen der Welt anhören kann – sogar meinen Heimatsender aus Yozgat.
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