Geistig-moralisch umverteilt

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge schreibt überzeugend gegen den neoliberalen Konsens in Politik und Medien an. Zwischen SPD und CDU kann er zu Recht keinen großen Unterschied erkennen

VON TIM ENGARTNER

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine wirkungsmächtige Koalition neoliberaler Wissenschaftler und Kommentatoren mit neoliberalen Erklärungsmustern für die Krise des Sozialstaates und die Notwendigkeit seines Umbaus aufwartet. Dieser einseitigen Kritik setzt nun der Politologe Christoph Butterwegge in seinem neuen Buch bedenkenswerte Alternativen entgegen. Kern seiner Darstellung ist die Forderung: Soziale Gerechtigkeit muss als „Topos des politischen Denkens“ erhalten bleiben – und dazu bietet er auch einige konkrete Lösungen an.

Fakten- und facettenreich schlägt der Autor den Bogen von der Architektur der sozialen Sicherungssysteme, die im Kaiserreich unter Otto von Bismarck entwickelt wurde, bis zum Abbau des Sozialstaates, den Rot-Grün gern als „Reform“ deklarierte. Seiner Auffassung nach kommt die partielle „Refeudalisierung der Arbeits-, Lebens- und Sozialbeziehungen“ einem „Rückfall in die Prämoderne“ gleich.

Eine zentrale These des Buches lautet denn auch: Der Sozialstaat wird seit Mitte der 1970er-Jahre restrukturiert und demontiert, obwohl er weder Verursacher der Weltwirtschafts- und Beschäftigungskrise ist noch aus seinem Um- wie Abbau irgendein Nutzen für die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklung des Landes erwächst.

Butterwegge greift bei seiner Analyse auf die Konzeption des Sozialstaates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Natürlich weiß der Autor, dass jene, die sich gegen die Preisgabe sozial- und ordnungspolitischer Errungenschaften stellen, oft als antiquiert dargestellt werden. Doch das beeindruckt ihn nicht. Er knüpft vielmehr an Pierre Bourdieu an, der 1998 in seinem Beitrag „Der Mythos ‚Globalisierung‘ und der europäische Sozialstaat“ den neoliberalen Kritikern entgegenhielt: „Diese konservative Revolution neuen Typs nimmt den Fortschritt, die Vernunft, die Wissenschaft für sich in Anspruch, um eine Restauration zu rechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken als archaisch erscheinen lässt.“

Ausführlich widmet sich Butterwegge den Politikfeldern, die im Zuge der liberal-konservativen Transformation seit 1974 eine prinzipielle Abkehr von althergebrachten, bewährten Prinzipien erfahren. Dazu zählt neben der Familien- und Arbeitsmarktpolitik insbesondere das Gesundheitswesen.

Letzterem schenkt er mit einer Diskussion der derzeit zurückgestellten Reformalternativen Kopfpauschale und Bürgerversicherung besondere Aufmerksamkeit. Auf knapp 30 Seiten macht er deutlich, dass es sich bei der Antwort auf die Frage nach der Finanzierung der Krankenversicherung um eine „gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung von historischer Tragweite“ handelt, funktionieren gesetzliche und private Kassen doch nach grundsätzlich verschiedenen Logiken: Solidarität der Versichertengemeinschaft versus Gewinnstreben der Versicherer.

Die Verschärfung des Sozialabbaus durch die „Riester-Rente“ und die Abkehr von der paritätischen Finanzierung der Pflegeversicherung kritisiert der Armutsforscher als „(Teil-)Privatisierung der sozialen Sicherung“. Denn so müssen seit 1. Januar 2005 kinderlose Versicherte im Alter zwischen 24 und 65 Jahren 1,1 Prozent ihres Bruttolohns in die Pflegekasse einzahlen, während der vom Arbeitgeber entrichtete Beitragssatz bei 0,85 Prozent stagniert.

Die Abkehr vom Umlageverfahren wird nicht nur unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten als verfehlt kritisiert. Unter Hinweis auf die Volatilität der internationalen Aktienmärkte betont Butterwegge zugleich die prinzipielle Krisenanfälligkeit des Kapitaldeckungsprinzips.

Die von Helmut Kohl eingeleitete „geistig-moralische Wende“ und die nach dem Regierungswechsel im September 1998 ausgebliebene Kehrtwende historisch einordnend, greift Butterwegge den tagespolitischen Diskurs auf. Dabei charakterisiert er nicht nur die Sozial-, sondern auch die Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung als „modifizierte Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben“ – unter Einbeziehung einschlägiger aktueller Literatur.

Butterwegges Buch sollten vor allem Neoliberale lesen. Und natürlich jene BürgerInnen, die Sozialpolitik nicht als „teuren Kostgänger der Ökonomie“ begreifen und den von neoliberalen Eliten fortlaufend torpedierten „Versorgungsstaat“ als unabdingbares Korrektiv der Marktprozesse erhalten sehen wollen.

Christoph Butterwegge: „Krise und Zukunft des Sozialstaates“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, 318 Seiten, 24,90 Euro