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Wenn Kinder pflegebedürftig sindSchlafen im Plexiglasbett

Als Claudia Groth eine Tochter bekam, wurde sie nicht nur Mutter, sondern auch Pflegerin. Denn ihr Kind hat tuberöse Sklerose.

Vergesst die Kinder nicht. Wer mit Eltern schwerkranker Kinder spricht, hört immer wieder diese Sorge Bild: dapd

Mitten in der Nacht springt Claudia Groth aus dem Bett. Sie hastet durch die Dunkelheit, hin zu ihrer Tochter.

Katharina liegt im Kinderbett, umschlossen mit Plexiglas. Die 9-Jährige schnappt immer schneller nach Luft, schlägt ihre Arme gegen die Scheibe, bäumt sich auf, sackt wieder zusammen. Claudia Groth bleiben nur wenige Sekunden. Sie entriegelt das Schloss des Pflegebettes, reißt die Tür auf und wuchtet sich mit aller Kraft auf ihre Tochter. Für wenige Minuten kämpft die Mutter gegen ihr eigenes Kind, drückt die zuckenden Arme auf die Matratze, damit sich Katharina nicht verletzt. Dann ist der epileptische Anfall vorbei. Claudia Groth schiebt einen Riegel vor das Plexiglas. Katharina hat es überstanden.

Claudia Groth kann diese Szene so genau erzählen, weil sie immer wieder passiert, jede Nacht. Seit neun Jahren.

Im öffentlichen Bewusstsein ist angekommen, dass ältere Menschen gepflegt werden. Aber Kinder? Ratgeber über Alzheimer füllen Bücherregale, selbst kleinere Städte bauen Beratungsstellen zu Demenz auf. Aber mehr als drei Prozent der 2,3 Millionen pflegebedürftigen Menschen sind jünger als 15 Jahre.

Eine Vergessene

Claudia Groths Tochter ist eine dieser Vergessenen. In ihrem Gehirn wuchern Tumore. Medizinisch sind sie gutartig und doch verhindern sie, dass Katharina lernt, zu sprechen, alleine zu laufen, sich selbst zu versorgen. Die Tumore lösen die epileptischen Anfälle aus, gegen die Groth jede Nacht kämpft.

Mit der Geburt ihrer kranken Tochter hat sich das Leben von Claudia Groth radikal verändert. Die Verwaltungswirtin ist 33 Jahre alt, als die Ärzte einen Monat nach der Geburt von Katharina die Diagnose stellen: Tuberöse Sklerose. Eine Erbkrankheit, die durch Gendefekte ausgelöst wird und bei einem von 8.000 Neugeborenen auftritt. Tuberöse Sklerose, das sind die ersten der vielen neuen Wörter, die mit diesem Moment in Claudia Groths Leben kommen. Bobath-Therapie, Eingliederungshilfe. Sie wird viel dazulernen müssen, das ist Claudia Groth schnell klar.

In den ersten Monaten eilt sie wie ferngesteuert von Arzt zu Arzt, von Untersuchung zu Untersuchung, von Amt zu Amt. Von jedem Experten hört die Mutter anderes. Wie sie Medikamente dosieren soll. Welche Therapie besonders hilft. Was bei epileptischen Anfällen zu tun ist. Pflegewissenschaftler nennen das den besonders hohen „Komplexitätsgrad“ bei der Pflege eines Kindes. Die Belastung sei mit jedem Tag größer geworden, sagt Claudia Groth.

Ein Kinderbett für 6.000 Euro

Aber sie hat Glück. Ihr Mann kann die Familie finanziell durchbringen, die private Pflegeversicherung deckt teure Anschaffungen ab. Zum Beispiel das Pflegebett für 6.000 Euro, dessen Plexiglasscheiben verhindern, dass sich Katharinas Arme in den Holzstäben verfangen. Vor allem lernt Groth, dass sie ihre Interessen selbst durchsetzen muss, dass es darauf ankommt, vernetzt zu sein, zu wissen, wo man was beantragt. Darauf, die richtigen Ärzte zu kennen und sich auch mal quer zu stellen.

„Das macht einen im Umgang mit Ärzten und Beamten sicher nicht bequemer“, sagt Groth. Vor zwei Jahren gründet sie den Verein „Kinderpflegenetzwerk“, um anderen mit ihren Erfahrungen zu helfen. „Ich bin mittlerweile nicht mehr nur pflegende Mutter, sondern Lobbyistin.“

taz

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Ende September, Rathaus Schöneberg, Berlin. Es ist einer dieser Termine, an denen Claudia Groth auf eine Bühne steigt, in der Hoffnung eine Botschaft zu hinterlassen. Sie ist zur Auftaktveranstaltung der Woche der pflegenden Angehörigen eingeladen. Politiker, Kassenfunktionäre und Pflegewerke zeichnen zehn besonders engagierte pflegende Angehörige mit einem „Pflegebären“ aus. Groth ist eine von ihnen.

Also steht sie im Hosenanzug und mit zurückgezopften Haaren vor einem Klapptisch, rückt Info-Flyer ihres Vereins zurecht und denkt über ihre Rede nach. Sie könnte jetzt aufschreiben, dass sich nur 30 Prozent der pflegenden Eltern ausreichend beraten fühlen oder dass 80 Prozent die Bürokratie als Hindernis empfinden, aber sie hat andere Probleme.

„Vergesst die Kinder nicht“

In einer Plastiktüte liegen ihre Pumps für die Ehrung. Vor zwei Wochen hat sie sich den kleinen linken Zeh gebrochen, als sie nachts wieder zu Katharina hechten musste. Jetzt muss dieser kaputte Zeh in einen der Pumps hinein. Zehn Minuten vor ihrem Auftritt kritzelt Claudia Groth ein paar Worte auf einen Zettel, wartet, bis sie aufgerufen wird, und humpelt zu ihrem Blumenstrauß. „Vergesst die Kinder nicht“, ruft sie den Gästen in ihrer Rede entgegen. Alle klatschen. Dann ist der Nächste dran.

Vergesst die Kinder nicht. Wer sich mit Claudia Groth und anderen Müttern schwerkranker Kinder unterhält, hört immer wieder diese Sorge. Es geht um Pflegestützpunkte, die alles über Demenz wissen, aber nichts über behinderte Kinder. Um Versicherungen, die mit Tabellen umgehen können, aber nicht mit Emotionen. Um Ärzte, die mal gut informiert sind – und mal nicht.

Dabei könnten die meisten Familien heute gut betreut sein, sagt Claudia Groth. Das Problem sei, dass sie nicht wissen, an wen sie sich überhaupt wenden sollen. Claudia Groth fordert mehr Orientierung und Aufklärung für die Betroffenen. Auch deshalb hat sie das Kinderpflegenetzwerk gegründet.

Einen Tag nach der Ehrung, zuhause bei Claudia Groth: Normalerweise kommt sie um drei Uhr von der Arbeit, heute hat es länger gedauert. Seit zwei Monaten arbeitet die Mutter wieder in ihrem alten Job. Teilzeit, 25 Stunden pro Woche, beim Berliner Senat. Erst ab fünf Uhr nachmittags kann sie sich wieder um ihre Tochter kümmern. Davor hat das eine Pflegerin übernommen, die gerade mit Katharina vom Spaziergang nach Hause kommt. Sie schiebt die 9-Jährige im Kinderwagen in den Hausflur. Dann zieht sie dem Mädchen die Orthopädieschuhe von den Füßen.

Schmuseeinheiten

„Erde an Kathi“, ruft die Mutter, aber ihre Tochter reagiert nicht. Sie hat heute vier Anfälle gehabt. Die neue Einstellung der Medikamente funktioniert nicht richtig. „Erde an Kathi“, sagt Claudia Groth noch einmal leise und schmust sich so lange ans Gesicht ihrer Tochter, bis Katharina ihre Lippen an die Wange der Mutter drückt.

Nicht nur Katharina braucht Schmuseeinheiten. Claudia Groths Mann hat heute Geburtstag. Aber in einer Stunde beginnt der Pflegestammtisch, den sie vier Mal im Jahr für andere Betroffene organisiert. Also rennt Claudia Groth in die Küche, zermörsert die Pillen für Kathi und eilt los. Um ihren Hals baumelt die Auszeichnung vom Vortag, die eine Perle ist. Sie trägt das Schmuckstück, weil sie sich dadurch in ihrem Engagement als Lobbyistin anerkannt fühlt.

Beim Stammtisch hält sich Groth zurück. Endlich ausruhen. Die anderen diskutieren über Therapie-Arten, über Vier-Punkt-Lifte für Rollstühle und sture Schulleiter. Manche Mütter notieren sich Nummern von guten Anwälten, Adressen von kompetenten Ärzten. Nach zwei Stunden verabschieden sich die Frauen, jede von einem Stückchen Last befreit.

Für Claudia Groth aber fängt der Abend gerade erst an. Zuhause wird sie sich ins Bett legen, das Licht ausmachen und eine Weile schlafen. Dann wird sie aufwachen, hektische Atemzüge hören und mit ihrem kaputten Zeh durch das Zimmer eilen.

Selbsthilfe pflegender Eltern: Kinder Pflege Netzwerk oder Kinder Pflege Kompass

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5 Kommentare

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  • VD
    Voll daneben

    "Beim Trauma zu landen was den Deutschen erfolgreich verordnet wird, überrascht mich nicht."

     

    schreibt "Würdevoll".

     

    Sitzen in der Zensurabteilung der taz-Redaktion eigentlich nur noch geschichtsvergessene Praktikanten ohne Gespür für rechtsextreme Gesinnungen?

     

    @Würdevoll (oder besser Hochwürden? Denn Sie maßen sich ja an, zu wissen, was ein schwerkrankes Kind wünscht und wie dann zu verfahren ist), Sie können ja Ihre Meinung (die hohe von sich selbst vor allem) pflegen, wie Sie lustig sind. Allerdings steht die Art und Weise, wie Sie die im Artikel vorgestellte Mutter mit Ihrer Besserwisserei herab*würdigen* (die hat auch eine verletzliche Seele, stellen Sie sich das mal vor!) im Gegensatz zu Ihren en passent lautstark rausposaunten ehrenwerten Leitlinien. Dazwischen ein Abgrund. Sie spielen sich als moralische Instanz auf, ohne selbst sich in einer ähnlichen Situation je befunden zu haben. Mit welchem Recht eigentlich?

  • W
    Würdevoll

    Für mich hat jedes Lebewesen eine Seele. Es käme für mich niemals in Frage, meine Kinder auf diese Art und Weise zu Tode zu pflegen. Niemals! Und ebenso würde ich meinen Tieren diese und ähnliche schlimmste Erkrankungen nicht zumuten.

     

    Warum nur ein Vergleich zu den Nazis gezogen wird, weil ich ein anderes Verständnis für Leben, Lebensfreude, Lebenssinn habe. What else! Beim Trauma zu landen was den Deutschen erfolgreich verordnet wird, überrascht mich nicht.

     

    Sind Sie wirklich empört? Oder empören Sie sich aus Reflex? Weil nicht sein kann was nicht sein darf?

     

    Was ist mit dem Recht des Kindes? Wann darf es entscheiden, ob es so "leben" will? Darf es überhaupt entscheiden? Kann es entscheiden? Wer entscheidet? Und warum? Und in nach welchen Regeln?

     

    Viele Fragen. Ich für mich habe sie beantwortet. Und habe keinerlei schlechtes Gewissen. Selbstmitleid? Mitnichten!

     

    Sie dürfen sich gern anders entscheiden.

  • TH
    Tom Heyman

    1. Als Vater eines schwerstbehinderten Jungen möchte ich gerade die TAZ bitten, nicht nur von den "Müttern schwerkranker Kinder" zu schreiben. Oder kommt da etwa ein traditionelles Rollenbild beim (männliche) Autor zum Vorschein? ;)

    2. Der Text suggeriert, dass die private Krankenversicherung bei schwerbehinderten Kindern ein Vorteil wäre. Leider ist das Gegenteil der Fall. PKVs übernehmen viel weniger Leistungen als GKVs und dann auch meist nur aus Kulanz. Zudem haben PKVs meist weniger Mitglieder als GKVs, d.h. noch viel weniger Erfahrung mit speziellen Anforderungen und auch Ansprüchen behinderter Kinder. Man kann ungefähr einen Arbeitstag pro Woche an Verwaltungsaufwand bei privater Versicherung ansetzen. Bei GKVs vielleicht einen Tag pro Monat. Das ist der Grund, warum wir bei unsrem Sohn von der PKV in eine große GKV gewechselt sind.

    3. Vergesst vor allem die Eltern nicht. Allein die monetären Kosten, die der Gesellschaft entstehen - wegen eingeschränkter Arbeitskraft der Eltern, oder Behandlung körperlicher und seelischer Erkrankungen aufgrund der Pflege - sind nämlich immens.

  • T
    Thorben

    Wenn man solche Sachen liest, dann weiß man, dass man mit viel mehr Demut und Dankbarkeit ans Leben gehen muss.

    Hut ab vor diesen Müttern und Danke für diesen Artikel!

  • H
    hmmm

    Danke für den Artikel!

     

    ABER

     

    Leider kam der Vater etwas kurz:

    - er verdient das Geld

    - er hat Geburtstag, sie hat aber keine Zeit, weil Pflegestammtisch ist…

     

    hmmmmmmm…