Unter Weihnachtsbäumen: Geschenktipps aus der Redaktion
: Die Augen öffnen

Siegfried Kracauer: „Theorie des Films“, Band 3 der Werkausgabe. Suhrkamp Verlag 2005, 914 S., 85 Euro

Siegfried Kracauer erlebt derzeit eine Renaissance. Der Suhrkamp Verlag bringt seit Jahren eine verdienstvolle Werkausgabe heraus, aktuell als dritten Band die 1960 erschienene „Theorie des Film – die Errettung der äußeren Wirklichkeit“. Aber das ist nicht der Grund für das neu erwachte Interesse, sondern nur glücklicher Zufall. Kracauers Filmtheorie, die lange als naiver, unterkomplexer Realismus galt, wird derzeit häufig als inspirierender Text wiederentdeckt. Warum?

Unternimmt man den unverfrorenen Versuch, den 450 Seiten starken, komplexen Text in zwei, drei Sätzen zu kondensieren, so könnten die lauten: Der Kinofilm kommt zu sich, wenn er nicht Kunst und Form sein will, sondern das Nebensächliche zur Geltung bringt. Im Kino sehen wir, was wir im Alltag verlernt haben wahrzunehmen – die äußere Wirklichkeit, „das Zittern der im Winde sich regenden Blätter“, das ein Kritiker 1895 bei Lumière entdeckte. Kracauer verteidigt das Besondere gegen das Allgemeine, das Detail gegen die großen Erzählungen.

Diese Skepsis gegen großflächige Sinnstiftungen klingt für postideologische Geister 2005 recht vertraut. Aber Kracauer ist kein Denker der Affirmation, den man gegen Adorno und die Kritische Theorie in Anschlag bringen kann. Das Besondere an ihm ist die ideologische Sperrigkeit, das Solitäre. Man könnte ihn einen „postmarxistischen Materialisten“ nennen. Deshalb scheitert auch der Versuch, ihn für die derzeit schicke Ideologie des Unideologischen zu verwerten.

Die „Theorie des Films“ ist in sachlich-schönem Stil geschrieben, weit entfernt vom Schematismus der Filmwissenschaften. Kracauers Theorie bleibt selbst skeptisch gegenüber dem Theoretischen, zielt eher aufs Beispiel als auf die Abstraktion. Anders gesagt: Man kann sehen lernen in diesem Buch.

Aber die Lesbarkeit und der gänzlich unakademische Stil allein begründen kaum das derzeitige Interesse an diesem fast vergessenen Buch. Vielmehr zeigt sich in diesem Interesse das Unbehagen in der digitalen, postmodernen Bilderkultur, in der alles möglich und so wenig erfahrbar zu sein scheint. Kracauer zeigt nun, dass nicht das Virtuelle, Konstruierte, sondern das Sichtbare, Materielle der Kern des Kinos ist. Im Kino können wir sehen, was unser auf Bedeutungen und Nützlichkeit geeichter Blick sonst übersieht. Man muss nur die Augen öffnen.

STEFAN REINECKE