Unter Weihnachtsbäumen: Geschenktipps aus der Redaktion
: Der gesamte Jazz

Joachim-Ernst Berendt, Günther Huesmann: „Das Jazzbuch“. Fischer Verlag 2005. 927 S., 29,90 Euro

Man stutzt verwundert, wenn man die Neuausgabe von Joachim-Ernst Berendts „Jazzbuch“ in die Hand nimmt. Neuausgabe? Berendt? Ist der nicht vor fast sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen? Tatsächlich ist die Fortführung des mit einer Auflage von über 1,7 Millionen weltweit erfolgreichsten Jazzbuchs durch den Musikwissenschaftler Günther Huesmann aber ein Glücksfall. Denn den Esoterikquark des späten Berendt ignoriert er souverän, während er sich mit der Neugier und Offenheit, der umfassenden Bildung, dem obsessiven Nerdtum und der undogmatischen Liebe zu dieser Musik, die eben auch Behrend antrieb, an eine Neusichtung der Jazzgeschichte und -gegenwart macht.

In acht großen Teilen stellt Huesmann die Stile, Musiker, Elemente, Instrumente, Stimmen, Big Bands und Bands des Jazz vor, gefolgt von einem Essay über die „Qualität des Jazz“. Und so schematisch einem diese Aufteilung auf den ersten Blick erscheinen mag, sie funktioniert prima. Beginnend mit der Geschichte des Jazz wird man dann in die Feinheiten der Musik eingeführt, um schließlich bei dem zu landen, was den Jazz im Kern ausmacht: Musiker, die in der Gruppe improvisieren.

Nun gibt es zahllose, ebenso umfangreiche amerikanische Gesamtdarstellungen dieser Musik. Dass Huesmann Europäer ist, arbeitet allerdings auf eine höchst elegante Weise für ihn: Er muss sich nämlich nicht entscheiden zwischen den Schulen, deren Einflusssphären man sich als Amerikaner kaum entziehen kann: die Neokonservativen um Wynton Marsalis hier, die Postmodernisten um John Zorn da, die Avantgardisten um William Parker und Cecil Taylor hier, die Fusionsverfechter da, die Weltmusikbeeinflussten hier, die Radikalexperimentalisten an der Grenze zur neuen Musik da. Huesmann behandelt sie alle gleich gut, stellt sich niemandem an die Seite, stellt in angenehm nüchterner Begeisterung die Bezüge dar, durch die sich die Jazzmusiker der Gegenwart schlagen, die Traditionen, in denen sie sich bewegen. Auch der europäische Jazz kommt da zu seinem Recht.

Das ist besonders deshalb so angenehm und am Ende auch unverzichtbar, weil Huesmann Jazz eben nicht als das behandelt, was es nach Meinung vieler seiner Freunde sein sollte, ein abgeschlossenes kulturelles Kontinuum, innerhalb dessen zwar noch Verfeinerung möglich, dessen Entwicklung aber eigentlich vorbei und der Höhepunkt lange überschritten sei. Huesmann stellt Jazz genauso dar, wie es auch Behrend bei der Erstausgabe des „Jazzbuchs“ vorschwebte: als „living music“. TOBIAS RAPP