Europa kommt an in Berlin

Gesucht: Eine Hymne für ganz Europa, zu derdie Menschen auf der Straße tanzen

AUS BERLIN SABINE HERRE

Die Debatte über Europas Zukunft findet in einer Turnhalle statt. An den Wänden hängen Basketballkörbe, ein Netz schützt die Jugendstilfenster vor scharfen Schüssen, hinter dem Podium sind an zwei Ständern Landkarten angebracht: das geografische und politische Europa.

Knapp 200 Schüler und Schülerinnen, 18, 19 Jahre alt, sind an diesem Donnerstagnachmittag in die Goethe-Oberschule in Berlin-Lichterfelde gekommen. Sie wollen mit der Vizepräsidentin der EU-Kommission Margot Wallström diskutieren. Doch bevor es richtig losgeht, stellt der Leiter der deutschen EU-Vertretung in Berlin drei Fragen. „Sind Sie für die Europäische Verfassung?, „Unterstützen Sie den Beitritt der Türkei? Wie halten Sie es mit dem Euro?“

Die Antwort auf die erste und die letzte Frage fällt eindeutig aus: Bei rund fünfzehn Gegenstimmen und einigen Enthaltungen gibt es ein klares Ja zu Verfassung und Euro. Selbst die zwanzig italienischen Schüler, die dabei sind, haben sich von der populistischen Kritik der eigenen Regierung an der Gemeinschaftswährung nicht beeindrucken lassen. Der Euro soll bleiben.

Ganz anders ist das Ergebnis der Abstimmung über den EU-Beitritt der Türkei. Rund 60 Prozent der Gymnasiasten sind dagegen, vierzig Prozent dafür. Auch in der folgenden Debatte gerät Vizepräsidentin Wallström vor allem bei der Frage, warum eigentlich die Türkei und nicht Russland in die EU aufgenommen werden soll, gehörig unter Druck. „Mit Russland“, so eine Schülerin, „verbinden uns doch viel mehr Werte als mit der Türkei.“ „Aber Russland hat eben keinen Aufnahmeantrag gestellt“, antwortet die Kommissarin.

Die Schüler und Schülerinnen stellen viele solch schwieriger Fragen. In gutem Englisch, oder besser Amerikanisch, viele haben einen Studienaufenthalt in den USA hinter sich. Wie kann die EU demokratischer werden, wo sie doch immer größer wird und die Entscheidungsabläufe undurchsichtiger? Wie beschleunigt man die Integration? Welche Aufgaben bleiben den Nationalstaaten? Und natürlich: Wie bringen wir Brüssel dazu, mehr auf uns junge Leute zu hören? Es sind Fragen, wie sie derzeit auch in EU-Expertenkreisen nicht anders debattiert werden. Fragen, auf die momentan kaum einer eine Antwort weiß. Doch die blonde, zierliche Frau muss Antworten geben. Nicht nur an diesem Nachmittag. Immerhin ist sie die Kommunikationskommissarin der EU.

Die Frage, wie man Europa den Europäern erklärt, wird in Brüssel nicht erst seit dem Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung gestellt. Dafür gibt es seit Jahren eine eigene Generaldirektion Kommunikation mit knapp 800 Mitarbeitern und einem jährlichen Haushalt von 80 Millionen Euro. „Das ist weniger, als es sich anhört“, erklärt Beate Gminder, enge Mitarbeiterin Wallströms. „420 Personen arbeiten in unseren Vertretungen in Mitgliedsstaaten und in Brüssel, viele sind mehr mit Verwaltung und weniger mit Kommunikation beschäftigt.“ Das größte Problem wohl aber ist: Regierungen wollen oft gar nicht, dass die Kommission über die EU informiert. Was über die angeblich so mächtige Brüsseler Bürokratie den Bürgern bekannt wird, wollen sie selbst bestimmen.

Doch nun soll alles besser werden. Bei seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr hat Kommissionspräsident José Manuel Barroso ein neues Ressort für Kommunikationsstrategie geschaffen. Mit dessen Leitung betraute er die bisherige EU-Umweltkommissarin Margot Wallström aus Schweden.

Fünfzehn Termine in 18 Stunden muss Wallström bei ihrem eineinhalbtägigen Besuch in Berlin absolvieren. Muss sich anhören, wie bei einem Treffen eine neue Hymne für Europa gefordert wird: „Zu der die Menschen auf der Straße tanzen.“ Muss Bundestagsabgeordnete bitten, sich mehr um europäische Fragen zu kümmern. Bundesratsmitglieder ermuntern, auf die Straße zu gehen, um festzustellen, was die Bürger von Europa erwarten. Sie will ihren Gesprächspartnern zuhören und muss doch ständig reden. Europa erklären eben.

Wallströms jüngstes und größtes Projekt, für das sie in Berlin wirbt, heißt Plan D. Ein Plan, der Europa aus der Verfassungskrise führen soll, und der nicht für Desaster steht, sondern für „Demokratie, Dialog und Debatte“. Die Ziele sind hochgesteckt. „Botschafter des guten Willens“, Schauspieler, Sportler, Musiker, sollen für die EU werben. Einen runden Debattentisch will man aufbauen. Internetseiten einrichten. Überall soll nun diskutiert werden. Auf diese Weise könnte, so die Kommissarin, „ein neuer Konsens“ über die Zukunft Europas entstehen. Eine Handlungsanleitung für die künftige Arbeit auf allen Ebenen der EU. Doch kann das wirklich funktionieren?

Margot Wallström hat die Gabe, eigentlich banale Dinge auf eine Art und Weise zu sagen, dass diese bei ihrem Publikum ankommen. Jenen Satz zum Beispiel, wonach Umweltverschmutzung Grenzen überschreitet und daher auch die Demokratie diese Grenzen überwinden muss. Um der Umweltverschmutzung Grenzen zu setzen. Die Schwedin möchte eine Vision entwickeln, die die Europäer miteinander verbindet. Ein Projekt, bei dem es um mehr geht als nur um „Jobs, gute Transportsysteme, bessere Bildung“. Einen Traum, den sie freilich selbst noch nicht hat.

Mit Plan D soll in Zukunft alles anders werden.D steht für Demokratie, Dialog und Debatte

Als sie in der Goetheschule einräumt, nicht auf alle Fragen eine Antwort zu haben, erntet sie spontanen Beifall. „Sie ist unglaublich sympathisch“, sagt die 18-jährige Anne Kostrzewa. Und ihre Freundin Esther Helmert ergänzt: „Das war kein Politikblabla.“

Diejenigen, die sich beruflich mit Europa beschäftigen, sind skeptischer. „Auch während des Verfassungsprozesses sollte mit den Bürgern über Europa diskutieren werden, daraus ist nicht viel geworden“, sagt etwa der grüne Bundestagsabgeordnete Rainer Steenblock. Und andere, die nicht zitiert werden möchten, meinen, dass die erfolgreiche Umweltkommissarin Wallström von den „Jungs in Brüssel, die sich mit harten wirtschaftlichen Fragen beschäftigen“, auf einen unwichtigeren Posten abgeschoben wurde.

Tatsächlich scheint in Brüssel die Unterstützung für Plan D nicht bei allen Kommissaren gleich groß zu sein. Als Wallström diesen in Prag erstmals in einem Mitgliedsland präsentierte, wurde sie von Kommissionspräsident Barroso und dem tschechischen Sozialkommissar Vladimir Spidla begleitet. Eben genauso wie es Plan D vorsieht. In Deutschland jedoch, dem immerhin größten Mitgliedsland, war Wallström allein unterwegs. Auf Barroso musste sie ebenso verzichten wie auf den deutschen Kommissar Günter Verheugen. Und dann ist da noch der stetige Vorwurf, mit Plan D doch „eh nur Propaganda“ für die EU zu machen. „Plan D kann nur funktionieren, wenn Sie den Leuten auch zuhören und sie nicht nur über die Vorzüge der EU informieren“, hatte ein Schüler gleich zu Beginn der Debatte in der Goethe-Oberschule gesagt. Doch auch hierauf hat die 51-Jährige eine Antwort, die sie von anderen Vertretern der EU-Bürokratie unterscheidet. „Die Menschen sollten nicht unterschätzt werden. Sie wissen, dass unsere Aufgaben schwierig sind, und ich denke, eine wirklich ehrliche, offene Debatte über diese Probleme kann funktionieren.“ Streit über EU-Projekte hält sie für nützlich, denn dann „rücken sie auf der öffentlichen Debatte in den Mitgliedsländern weiter nach oben“. Allzu viel Streit sollte es freilich auch nicht sein. So ist die erbitterte Auseinandersetzung über die Dienstleistungsrichtlinie, die in Frankreich entscheidend zum Scheitern der Verfassung beitrug, für sie ein Beispiel für ein Informationsdebakel. „Wir haben da alles falsch gemacht.“

Doch der gute Wille, in Zukunft vieles besser zu machen, könnte sich schon bald als nicht ausreichend erweisen. Denn ein grundsätzliches Problem von „Demokratie, Dialog, Debatte“ ist nicht geklärt: Was passiert eigentlich, wenn die Diskussionen quer durch Europa ergeben, dass die Franzosen gern eine soziale EU hätten. Die Briten aber eine neoliberale. Wenn die Polen die Türkei in der EU haben wollen, die Deutschen aber nicht. Wer stellt dann daraus den Konsens her?

In Lichterfelde spielen all diese Fragen zumindest im Moment keine Rolle. Die Kommunikationskommissarin hat ihre Zuhörer überzeugt. Die Europahymne, Beethovens Ode an die Freude versehen mit einem neuen Text, die beim Beginn der Veranstaltung nur zaghaft erklang, ist nun deutlich zu verstehen. „Sterne an Europas Himmel / Meinem zweiten Vaterland / Alle Schranken sind gefallen / Nachbarn gebt zum Bund die Hand“. Margot Wallström hat fast so etwas wie Euphorie für Europa geschaffen. In Brüssel wird sie diese vermutlich bald vermissen.