: Sex unterm Halbmond
ALLTAG Shereen El Feki hat fünf Jahre lang die arabische Welt bereist, um Gespräche über die Intimsphäre der Menschen zu führen. Heraus- gekommen ist ein Buch, das neue Perspektiven auf komplexe Zusam- menhänge bietet
VON ALEXANDRA SENFFT
Sexualität in der arabischen Welt erinnert an Kairos Zitadelle – eine „uneinnehmbare Festung, deren Außenmauer jeden erdenklichen Angriff auf die Bastion heterosexueller Ehe und Familie abwehrt“. In Wahrheit sei diese Mauer jedoch durchlässig, sagt die Journalistin und Immunologin Shereen El Feki. Fünf Jahre hat sie die Region bereist, vor allem das bevölkerungsreichste Land Ägypten, um sich mit der Intimsphäre der Menschen zu beschäftigen. Ihr Bericht, eine Mischung aus Reportage und Forschungsarbeit, ist fabelhaft geschrieben, differenziert, politisch und stellenweise sogar witzig. El Feki war bis 2012 stellvertretende Vorsitzende der UN-Global Commission on HIV and the Law, heute arbeitet sie für al-Dschasira und den Economist.
Die Kanadierin, Tochter eines Ägypters und einer Waliserin, benennt den tiefen Graben, der in puncto Sexualität zwischen der arabischen Welt und dem Westen besteht. Einstellungen seien indes wandelbar: „Zu anderen historischen Zeiten haben Ost und West die Plätze getauscht.“ Zu Beginn des Islam sei man viel freizügiger als im Westen gewesen. Das Goldene Zeitalter arabischer Wissenschaft vom 8. bis 10. Jahrhundert war begleitet von einer sexuellen Blütezeit und pornografischen Schriften, die den Playboy hausbacken wirken ließen. Bis zum Niedergang der arabischen Welt Ende des 18. Jahrhunderts sei es dort hoch hergegangen: Der Schriftsteller Gustave Flaubert „fickte sich sozusagen nilaufwärts“. Mit dem Kolonialismus habe sich gegenüber dem Westen zunehmend ein Gefühl von Unterlegenheit eingeschlichen, die folgenden Diktaturen brachten Zensur, Selbstzensur, sexuelle Unterdrückung.
„Durch ihre Interpretation des Islam haben viele Muslime sich selbst und ihrer Religion Fesseln angelegt“, so die Autorin. Die Ehe steht über allem: „In der arabischen Region ist Heirat die Erlaubnis zu vögeln“, zitiert sie einen marokkanischen Soziologen. Viele restriktive Praktiken von heute widersprächen allerdings dem Islam, und in Sachen Sexualität sei die Religion mitunter flexibler als die Politik. El Feki beschreibt die Tabus im arabischen Alltag: Armut und mangelnde Bildung spielen dabei eine entscheidende Rolle. Ohne Arbeit und Ehepartner sind junge Ägypter von ihrer Familie vollkommen abhängig. Je geringer die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Bürger, desto brutaler verhalten sie sich gegenüber Schwächeren. Das bekommen vor allem unverheiratete Frauen, Alleinerziehende, Homosexuelle oder Prostituierte zu spüren.
El Feki, selbst gläubige Muslima, nimmt ihre Leser mit zu Intellektuellen, Ärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern, Künstlern, Prostituierten, Schwulen und Lesben, zu religiösen Führern und Aktivisten sowie zu vielen ganz gewöhnlichen Menschen. Die Antworten sind häufig überraschend. Fortschritte im Umgang mit der Sexualität gibt es besonders in Tunesien, Marokko oder Libanon. Zu den heiteren Stellen im Buch gehört es, wenn El Feki beim Kaffeeklatsch mit ägyptischen Freundinnen „summende Clit-Bunnys mit rotierenden Schaftperlen und Kitzelohren“ begutachtet oder im Dessousladen Hijab-tragende Frauen beim Einkauf heißer Höschen beobachtet. Geht es um den Gebrauch von Kondomen (assoziiert mit verbotenem vorehelichen Sex), um die heimliche und meist falsche Einnahme von Pille und Viagra oder riskante Abtreibungspraktiken, hört der Spaß schnell auf. Besonders beklemmend sind die Kapitel über die noch immer weit verbreiteten Genitalverstümmelungen, sexuelle Belästigung und häusliche Gewalt, über die Situation von Sexarbeiterinnen und die Verbreitung von HIV.
Auffällig findet El Feki die große Kluft zwischen privatem und öffentlichem Verhalten: „Männer, denen vorehelicher Geschlechtsverkehr freisteht, während von Frauen erwartet wird, dass sie unberührt bleiben …, Sextourismus, der sich als Ehe ausgibt; Reisende, die daheim ihre Frömmigkeit zur Schau stellen, aber, sobald sie im Ausland sind, wüst über die Stränge schlagen“. Sie nennt das Heuchelei – übrigens ein klarer Verstoß gegen den Islam. Die Aufstände in der arabischen Welt lassen die Autorin auf eine sexuelle Revolution hoffen, wie seinerzeit im Westen. Doch sie ist skeptisch: Die jungen Ägypter könnten die Erfahrung machen, „dass es schwieriger ist, von zu Hause auszuziehen, als Mubarak aus dem Amt zu jagen“.
■ Shereen El Feki: „Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der arabischen Welt“. Übersetzt v. T. Schmidt. Hanser, Berlin 2013, 416 S., 24,90 Euro
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