Präsident mit eigenem Urteil

János Áder ist nicht zu beneiden. Ungarns 53-jähriger Staatspräsident hat es in der Hand, die Entmachtung des Verfassungsgerichts zu verhindern und den Demokratieabbau in Viktor Orbáns Reich zu torpedieren. Er müsste der vierten Novelle zur neuen Verfassung, die am Montag im Parlament durchgewinkt wurde, seine Unterschrift verweigern.

Dass er sich nicht als Stempelkissen des Premiers missbrauchen lässt, hat er schon bewiesen, als er im Dezember das umstrittene neue Wahlgesetz zurückschickte. Anders als sein Vorgänger Pál Schmitt, der vor einem Jahr wegen der Aberkennung seines Doktortitels zurücktreten musste, erlaubt er sich eigene Gedanken. Schon in seiner Antrittsrede am 10. Mai 2012 kündigte er an, er werde seine „verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten“ zur Gänze erfüllen.

Jetzt wäre er gefordert. Sein Vorvorgänger László Sólyom appellierte an ihn in einem offenen Brief, die Verfassungsänderungen abzulehnen. Die konstitutionelle Demokratie stehe auf dem Spiel, wenn das Verfassungsgericht de facto ausgeschaltet werde. Der Jurist Áder, der sich am Montag in Berlin Kritik von Kanzlerin Angela Merkel anhören musste, kann nur zu gut ermessen, wie Orbán Staat und Verfassung nach seinen Bedürfnissen maßschneidert. Er muss hin- und hergerissen sein zwischen professionellem Urteil und Loyalität zur Partei. Schließlich war er Vizepräsident der Regierungspartei Fidesz.

An der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, wo er mehrere Jahre lehrte und forschte, hatte er sich auf die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlaments spezialisiert. Als Abgeordneter von 1990–2009 und jüngster Parlamentspräsident in der Geschichte des Landes ist er auch mit den Regeln und Usancen eines lebendigen Parlamentarismus vertraut. Als Europaabgeordneter (2009–2012) konnte er zudem Brüsseler Luft schnuppern, was erfahrungsgemäß gegen dumpfe Invektiven gegen die EU, wie sie in Ungarn hochpopulär sind, immunisiert. Macht er von seinem Recht der Unterschriftsverweigerung Gebrauch, riskiert er seinen Job, gewinnt aber an Ansehen im Ausland und bei der Opposition. RALF LEONHARD

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