DIE WAHLANALYSE DER CDU: WER JETZT SCHIMPFT, IST BRAV
: Mehr Schein als Sein

Eigentlich könnte sich der CDU-Vorstand seine heutige Sitzung zum Thema „Wahlanalyse“ sparen. Alle wesentlichen Spitzenpolitiker haben bereits öffentlich kundgetan, warum die Union schlechter als erwartet abschnitt: Die Union sei im Wahlkampf zu unsozial erschienen, habe zu viel über kalte Ökonomie geredet und zu wenig die Gefühle der Menschen angesprochen. Das ist für Angela Merkel zwar nicht schmeichelhaft, aber völlig ungefährlich. Ihr persönliches Karriereziel hat sie erreicht. Als frisch installierte Kanzlerin kann sich Merkel die Kritik ruhig anhören, ohne daraus Konsequenzen ziehen zu müssen.

Die Wahlanalyse kommt schließlich genau zu dem von Merkel selbst gewünschten Zeitpunkt. Wer jetzt schimpft, ist nicht mutig, sondern brav. Elf Wochen lang hatten sich alle Spitzenpolitiker, außer Friedrich Merz, an Merkels Aufforderung gehalten, mit der Ursachenforschung zu warten, bis die neue Regierung steht. Weder als Kanzlerin noch als Parteivorsitzende gerät sie durch die nun aufgeflammte Fehlersuche in Bedrängnis. Zumal die Kritiker nur an der Oberfläche kratzen.

Bisher wird kaum das Programm in Frage gestellt, mit dem Merkel angetreten ist, sondern nur die Art und Weise, wie sie es verkauft hat. Doch das ist Schnee von gestern. Als Kanzlerin hat Merkel alle Chancen, ihr kühles Erscheinungsbild zu korrigieren. Tief greifende Entscheidungen über den Kurs der Union bleiben ihr schon durch den Koalitionszwang erspart. Ob das nächste Unionsprogramm substanziell anders ausfallen sollte als das letzte? Das lassen auch ihre Kritiker wohlweislich offen. Aus ihrer Wahlpleite hat die CDU nur einen Schluss gezogen: Man will irgendwie sozialer scheinen. Vor der Antwort auf die Frage, ob die Union sozialer sein soll, drückt sie sich noch herum. Dabei wird sie nicht umhinkommen, Farbe zu bekennen: Die Gesundheitsreform lässt sich kaum um eine ganze Legislatur verschieben. Hier wird die CDU schon bald konkrete Vorschläge machen müssen – und die werden mehr Aufschluss über Merkels Stellung in der Union geben als die heutige Debatte in der Parteizentrale. LUKAS WALLRAFF