Lebertransplantation bei Alkoholkranken: Hilfe als Regelverstoß
Der Umgang mit Suchtkranken steht exemplarisch für den Reformbedarf des Transplantationssystems. Die Kriterien bedürfen dringend einer Überprüfung.
Silvia C. ist 40 Jahre alt. Vor 18 Monaten begann sie zu trinken. Die Gaststätte, die sie mit ihrem Mann vor ein paar Jahren eröffnet hatte, wuchs ihr über den Kopf, sie hatte das Gefühl, ihre zwei Kinder zu vernachlässigen. Der Alkohol verschaffte ihr Entspannung. Seit drei Monaten hatte ihr Konsum zugenommen. Dass sie hier ein Problem hatte, gestand sie sich nicht ein.
Von einem Tag auf den anderen konnte sie nichts mehr bei sich behalten. Sie vertrug auch keinen Alkohol mehr. Gleichzeitig bemerkte sie, wie sich ihre Augen gelb färbten. Die Diagnose im Krankenhaus: akute Alkoholhepatitis. Auch eine beginnende Leberzirrhose wird festgestellt. Eine Therapie mit Kortison schlägt nicht an. Nach einer Woche beginnen Blutungen. Aus der Nase. Dann aus dem Magen. Die Ärzte verlieren die Hoffnung.
Vor zwei Jahren veröffentlichte eine französisch-belgische Arbeitsgruppe um Philippe Mathurin aus Lille in einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift Ergebnisse der Lebertransplantation bei Patienten mit akuter Alkoholhepatitis. Von den Transplantierten überlebten mehr als drei Viertel das kritische erste halbe Jahr. Von den nicht Transplantierten weniger als ein Viertel. Eine günstige psychologische und soziale Prognose war Voraussetzung, um an der Studie teilzunehmen. Nur ein kleiner Teil der Patienten überwand diese Hürde.
Für Silvia C. ist eine Transplantation in Deutschland nicht erlaubt, auch wenn Psychologen ihr eine hervorragende Prognose ihrer Suchterkrankung bescheinigen. Die Richtlinien der Bundesärztekammer bestimmen lapidar: „Bei Patienten mit alkoholinduzierter Zirrhose erfolgt die Aufnahme in die Warteliste erst dann, wenn der Patient für mindestens sechs Monate völlige Alkoholabstinenz eingehalten hat.“ Ausnahmen? Keine.
Reformbedarf
Soll Silvia C. sterben, obwohl man ihr helfen könnte? Kann, darf ein Arzt das verantworten? Der Umgang mit Alkoholikern steht exemplarisch für den Reformbedarf des Transplantationssystems: Die Kriterien, nach denen Spenderorgane in Deutschland vergeben werden, bedürfen dringend der wissenschaftlichen Überprüfung und der gesellschaftlichen Legitimation.
ist internistischer Oberarzt für Lebertransplantation am Klinikum rechts der Isar der TU München. Das Zentrum ist eins von vier Zentren, das im Verdacht steht, sich an Manipulationen bei Organvergaben beteiligt zu haben.
Die sogenannte Sechsmonatsregel geht auf eine Stellungnahme der amerikanischen Gesellschaft für Lebererkrankungen aus den 90er Jahren zurück. Sie empfahl, dass „die meisten alkoholkranken Patienten mindestens sechs Monate abstinent sein sollten, bevor sie zur Transplantation gelistet werden“.
So sollte erstens der Leber Zeit gegeben werden, sich eventuell zu erholen, und sollten überflüssige Transplantationen vermieden werden. Zweitens sollte eine sechsmonatige Karenz die Vorhersage erleichtern, ob es dem Patienten gelingen würde, auch dauerhaft ohne Alkohol zu leben.
Tatsächlich zeigt sich, dass eine Erholung der Leberfunktion im Wesentlichen in den ersten drei Monaten nach Beendigung des Alkoholkonsums erfolgt. Für die Prognose eines Rückfalls in die Suchterkrankung ist eine sechsmonatige Alkoholkarenz ein Faktor unter vielen.
Zwischen Rückfall und Kontrolle
Eine Alkoholabhängigkeit ist erst nach Jahren der Alkoholkarenz stabil unter Kontrolle. Oft ist der Verlauf von einem Wechsel zwischen Rückfällen und erneuter Kontrolle geprägt. Der Funktion des Transplantats schadet das meist nicht. Sie leidet dann, wenn es über längere Zeit zu erheblichem Alkoholkonsum kommt.
Deshalb hat sich eine französische Konsensuskonferenz schon lange gegen die Sechsmonatsregel ausgesprochen. In England stellt James Neuberger, eine Koryphäe der britischen Lebertransplantationsmedizin, fest: „Die 6-Monats-’Regel‘ “ ist irrelevant, basiert nicht auf wissenschaftlichen Daten und hatte im Vereinigten Königreich nie Bedeutung.“
Und in Deutschland? Als im Jahr 2000 erstmals Richtlinien für Lebertransplantationen erlassen wurden, lautete der betreffende Paragraf noch anders. Dem Verbot der Listung in den ersten sechs Monaten der Alkoholkarenz folgte die Einschränkung, dass Patienten mit psychologisch attestierter guter Prognose und erfolgter Entzugsbehandlung früher auf die Warteliste gesetzt werden könnten. Mit einer Novelle im Jahr 2006 entfiel diese Ausnahme, ohne dass neue medizinische Erkenntnisse vorgelegen hätten.
Ressentiments gegen Alkoholkranke bestehen bei vielen Ärzten, auch bei Transplantationsmedizinern. Sie werden von den Entscheidungsträgern im Transplantationswesen aber vor allem der Gesellschaft unterstellt. Den potenziellen Organspendern sei nicht vermittelbar, wenn Alkoholiker transplantiert würden, hört man oft. Ob das wirklich so wäre, wenn den Menschen Hintergründe und Konsequenzen dieser Regel bekannt wären, hat bislang niemand untersucht.
Keine Chance
In Deutschland sterben wegen dieser Regel Patienten, denen mit guter Erfolgsaussicht geholfen werden könnte. Auch wenn eine Frist zur Beurteilung der Erfolgsaussichten im Kampf gegen die Alkoholabhängigkeit zumutbar und wünschenswert ist – in den Fällen, in denen Patienten trotz vermutlich guter Suchtprognose keine Chance haben, die geforderten sechs Monate zu überleben, muss anders entschieden werden können.
Bei Silvia C. hat sich das Team der behandelnden Ärzte über die Bestimmung der Richtlinien hinweggesetzt und damit einen der Regelverstöße begangen, die im Rahmen der Überprüfung verschiedener deutscher Transplantationszentren in den letzten Monaten öffentlich wurden. Viele davon mögen durch Schlamperei, Ehrgeiz oder fehlgeleitetes Helfertum erklärbar sein. Aber nicht alle.
Die Richtlinien zur Organtransplantation kranken an Ungenauigkeiten, sind in vielen Bereichen überholt und an entscheidenden Stellen lückenhaft. Das Ziel, die Überlebenschancen zwischen allen Patienten mit einer Transplantationsindikation gerecht zu verteilen, erfüllen sie nicht. Viele Juristen bezweifeln auch deshalb, dass die Regelung des Transplantationswesens verfassungsgemäß ist. Unter den Bedingungen des derzeitigen Organspendermangels ist sie in jedem Fall für manche Patienten tödlich. Silvia C., die in Wahrheit anders heißt, hat die Transplantation überlebt und blieb trocken.
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