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Der FortsetzungsromanKapitel 1: Kopfgeburt

Die Autorin Tania Witte schreibt ab sofort jede Woche den Fortsetzungsroman „Lust. Ausgerechnet“. Protagonistin Leena wird mit ihrer Lust konfrontiert.

Vor lauter Aufregung hängt Leena kotzend über der Kloschüssel. Bild: ap

Leena wartete. Worauf, wusste sie nicht, nur dass es unabdingbar war. Sie lag mit dem Kopf am Fußende des Bettes, die nackten Füße gegen die Wand gestützt, und betrachtete das rechteckige Schwarzweißfoto eines Steinturms. Das Bild hatte sie gleich dreimal gekauft, um den Turm bis zur Zimmerdecke wachsen lassen zu können, so dass er nun wie ein breiter Strich aus Wiederholungen über ihr schwebte.

Sie war das Warten gewöhnt. Solange ihr Unterbewusstsein Themen beackerte, von denen ihr Bewusstsein jederzeit abgestritten hätte, sich mit ihnen zu beschäftigen, konnte sie nichts anderes tun, als abzuwarten. Was häufig vorkam.

Lange Girlanden von Fragen säten sich im Stundentakt in ihr fruchtbares Hirn und keimten, sprossen, wuchsen dort einigermaßen unbehelligt vor sich hin. Am Ende gebar Leena Antworten, von denen sie weder wusste, dass sie mit ihnen schwanger gegangen war, noch, ob sie sie hören wollte.

Eine leichte Übelkeit oder ein Ziehen im Hirn zeigten ihr an, wenn die Zeit gekommen war, die Geburtshaltung – auf dem Bett, unter dem Strich – einzunehmen. Die Antwort, wenn sie schließlich das Licht der Welt erblickte, ploppte hervor, ein Ausrufezeichenpunkt unter der langen Linie aus Steinen. An diesem Freitag im Mai war der Schmerz im Kopf so groß, dass ihr die Geburt selbst komplett entging.

Tania Witte

lebt als freie Autorin in Neukölln. Ihr aktueller Roman „leben nebenbei“ erschien im vergangenen Jahr beim Querverlag. Außerdem ist sie in Gestalt ihres Alter Egos CayaTe auf SpokenWord-Bühnen aktiv. Sie schreibt wöchentlich den Fortsetzungsroman „Lust. Ausgerechnet“ auf der letzten Seite des taz.plan – immer donnerstags am Kiosk in der taz.berlin.

„Ich bin“, sagte das Neugeborene, „alles, was du nicht willst. Alles, was du ignorieren, verbrennen, zerstückeln willst. Aber damit“, es wuchs ein wenig, „damit ist jetzt Schluss. Ich erwarte nicht, dass du mich in die Arme nimmst“ (natürlich erwartete es genau das), „aber ich erwarte, dass du mich ansiehst. Was ich bin ist, was du bist, weißt du?“

„Nein“, sagte Leena laut, „weiß ich nicht. Was soll das Theater?“

„Ich bin Vergangenheit und Zukunft und geboren aus beidem“, orakelte die Antwort weiter.

„Bist du auf Drogen?“, wollte Leena wissen.

„Keine schlechte Idee“, grinste die unerwünschte Antwort, die Haare noch feucht von der Geburt. „Genau darum geht es. Ich bin das, was du deine dunkle Seite nennst. Du hasst mich, hast mich eingesperrt und im Dunklen wächst sich’s gut. Aber jetzt reicht’s.“ Sie pumpte sich noch ein bisschen auf, lief rosarot an und platzte stolz heraus: „Ladys and Gentlemen!“

Leena sah sich um. Keine Gentlemen vor Ort, und sie selbst war von einer Lady auch meilenweit entfernt. Paralysiert verzichtete sie auf eine Richtigstellung.

Die ungefragte Antwort gefiel sich derweil in der Rolle des Direktors eines Achtziger-Jahre-Kleinstadt-Zirkus. „Ich präsentiere dir“, Trommelwirbel, Beckenschlag: „Deine Lust.“

Ein Foto, in diesem Moment von Leena geschossen, hätte es bis in das Horrorkabinett ihres Exmitbewohners Kay geschafft, der über seinem Schreibtisch Bilder von besonders entstellten Fratzen seiner Mitmenschen sammelte. Leena hätte ohne Anstrengung dem Bild von Nuray Konkurrenz gemacht, auf dem diese im Hollandurlaub unter einer Massenpopulation vibrierender Weberknechte stand.

Leider war niemand da, der Leenas unbezahlbaren Anblick – die Zähne fest in die Unterlippe verbissen, die Augenbrauen ein dahingeworfener Balken auf ihrer Stirn – für diese Horror-Pinnwand festgehalten hätte. Sie starrte auf die Ausgeburt ihrer selbst, die Antwort, die sie nicht hatte hören wollen und die jetzt aufgeregt auf dem Bett auf- und absprang, auf und ab.

„Lust!“, schrie die lästige Antwort. „Lu-hu-huu-st!“

Und Leena wurde schlecht. So richtig.

Auch in ihrer Kloschüssel, die Knie hart auf den grauen Fliesen, die Augen rot und der Hals rau, konnte sie die Frage, die zu der unwillkommenen Antwort gehörte, nicht ausmachen.

Die Antwort worauf lautet: Lust?, überlegte Leena und stützte sich erschöpft am Badewannenrand ab. Auf der Hand läge etwas mit Sex, mit Ausschweifungen und Exzess. Halbseiden. Schmutzig.

„Warum hast du das getan?“

„Ich hatte einfach Lust dazu.“

Eine simple, unschlagbar hedonistische Antwort.

Leena drehte den Hebel der Badewannenarmatur weit nach rechts und ließ das Wasser laufen, bis es tongagrabenkalt war. Dann bündelte sie mit der linken Hand ihr Haar im Nacken, schob sich weit über den Badewannenrand, hielt das Gesicht unter den Strahl und die Luft an.

Erst als eine dünne Eisschicht ihre Haut bedeckte, erinnerte sie sich an die Frage, die sie tagelang umgetrieben hatte. Sie fuhr hoch, schlug mit dem Kopf gegen den Wannenhahn, fühlte erst nichts und dann den Schmerz und dann wieder nichts.

LUST. Ausgerechnet.

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