As if Ostblock never happened

LINKSAUSSEN Der Erfolg des New Yorker Magazins „Jacobin“ zeigt: Seit Obama wird Sozialismus in den USA zunehmend gesellschaftsfähig

Sozialismus nicht als Gegensatz, sondern als Verwirklichung der amerikanischen Demokratie: die Freiheit von wirtschaftlicher Ausbeutung

VON JOHANNES THUMFART

Der Stempel „Socialist“ hat in den USA während der letzten beiden Jahre eine kuriose Umwertung erfahren. Der inflationäre und vor allem unrichtige Gebrauch des S-Worts in Bezug auf Obama sollte diesem den Wahlkampf versalzen – in Wirklichkeit hat die krude rhetorische Strategie der Rechten jedoch gerade dazu geführt, dass Sozialismus gesellschaftsfähig wurde. Einst dachte man beim S-Wort an Gulag, durchgeknallte Fünfjahrespläne und atomare Bedrohung – heute an so nützliche Dinge wie Obamacare. Von dieser Bedeutungsverschiebung profitieren auch tatsächliche Sozialisten weit links des Mainstreams. Ähnlich wie die Wörter „Nigger“ und „Gay“ wird das zur Diffamierung eingesetzte Label jetzt effektiv zur politischen Selbstpositionierung benutzt.

Kaum etwas verkörpert die neue gesellschaftliche Akzeptanz der extremen Linken besser als der unwahrscheinliche Erfolg des sich selbst als sozialistisch bezeichnenden Brooklyner Magazins Jacobin, ein seit September 2010 erscheinendes, unabhängiges Vierteljahresheft mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren. Das in der ehemaligen Crack-Hochburg Bedford-Stuyvesant produzierte Heft wird derzeit vom linksliberalen amerikanischen Mainstream wie der New York Times und dem Nachrichtensender MSNBC gefeiert: als willkommener Linksaußen in dem noch immer polarisierten Tauziehen um die öffentliche Meinung, an dem mit Fox Television ein Mediengigant teilnimmt, den man als konservativ bis rechts außen charakterisieren kann. Aber auch international findet das derzeit ästhetischste Exponat der seit Occupy erneuerten US-Linken ein breites Echo.

Dabei wird die kompromisslose politische Linie des Magazins seinem brachialen Namen – die Jakobiner waren die Links-außen-Kräfte der Französischen Revolution – gerecht. Gern diskutiert man etwa jene Schlüsselfrage im Futur II, die die radikale Linke merkwürdigerweise zumeist ausspart: nämlich die, was eigentlich konkret zu tun ist, nachdem die Revolution gekommen sein wird. Alles in allem bietet man zeitaufwendige Texte fernab der Tagespolitik, gern auch Sperrig-Historisches zum Radikalismus im 19. und 18. Jahrhundert.

In Zeiten der Printmedien-Krise begeistert vor allem auch der nicht gerade absehbare ökonomische Erfolg dieses Konzepts. Seit drei Jahren trägt sich das unabhängige Magazin nun schon durch Spenden und Verkäufe. Wie Beschreibungen eines Start-up-Wunderkinds lesen sich die wohlwollenden Artikel über Bhaskar Sunkara, den gerade mal 23-jährigen Gründer und Herausgeber, Sohn indischstämmiger Einwanderer aus Trinidad. Wie außergewöhnlich sein Erfolg ist, wird klar, wenn man bedenkt, dass im vergleichsweise linken Deutschland mit dem Freitag, dem Neuen Deutschland und der Jungen Welt einige der wichtigsten linken Publikationen vom Vertrieb Springers und sogar von einzelnen privaten Mäzenen abhängig sind. Und auch glaubwürdigere linke Publikationen schlagen hierzulande einen wesentlich gemäßigteren Ton an als Jacobin.

Ein zentrales Thema des Hefts ist die politische Ökonomie, für die sich die Linke in den USA seit der Finanzkrise verstärkt interessiert. Gerade der Erfolg im Lobbyismus für Schwarze, Schwule und Frauen in der Vergangenheit, aber auch das konservative Engagement auf diesem Gebiet haben es wieder nötig gemacht, zurück zum eigentlichen linken Kernthema zu kommen. Etwa wird die Frage gestellt, wie man die postrevolutionäre Planwirtschaft konkret organisieren sollte, um einen ähnlich unattraktiven Lebensstandard wie im ehemaligen Ostblock zu vermeiden. In diesem Zusammenhang steht man auch mit David Graeber in offener Fehde, jenem anarchistischen Anthropologen, der sich im Zuge von Occupy in die Herzen der Bourgeoisie schrieb. Graebers Mammutwerk über Schulden habe nichts zur nötigen Neuorganisation einer hoch entwickelten Wirtschaft zu sagen, sondern lediglich zu politisch letztlich harmlosen kulturwissenschaftlichen Fragen. Mit seiner Idee eines spontanen Kommunismus bleibe Graeber Romantiker, kritisiert Jacobin. Auch nach der Revolution werde nichts ohne eine Form ausgeklügelter staatsähnlicher Organisation gehen.

Fast belletristisch wirkt diese politische Ernsthaftigkeit bisweilen, wie aus der Zeit gefallen oder aus einem parallelen Universum, in dem sich die Linke nie diskreditiert hat. Schon im Vorwort zur ersten Ausgabe heißt es, man sei der Moderne und dem „noch unverwirklichten Projekt der Aufklärung“ verpflichtet – as if Adorno/Horkheimer never happened. Natürlich hat gerade dieser fast absurde Purismus einen ironischen Beigeschmack, der vom netten Äußeren des Magazins unterstrichen wird.

Trotzdem ist es falsch und letztlich anachronistisch, hier von „Hipster-Sozialismus“ zu sprechen, wie es oft geschieht. Der Hipster ist ein irrsinnig veraltetes Label der nuller Jahre, das im Brooklyner Stadtteil Bedford-Stuyvesant, wo das Magazin herkommt, so aus der Zeit gefallen scheint wie das Adjektiv „knorke“ – es sei denn, man verwechselt die Realität mit Mainstream-Comedy wie „2 Broke Girls“ und „Portlandia“.

Wenn Jacobin überhaupt in einer Relation zum Hipster steht, dann handelt es sich bei dem Magazin um einen Teil der sich seit Occupy abzeichnenden Antithese zu dem Phänomen des unter Amerikanern wachsenden Bewusstseins, dass das nomadische Leben zwischen Latte-plus-Umsonst-WLAN in prekären Stadtvierteln und mies bezahlten, an sich überflüssigen Kreativjobs ohne soziale Sicherheit niemals Snobismus war, sondern das alarmierende Symptom einer korrodierenden Mittelschicht. Mit anderen Worten: Man hat es mit keinem Radical Chic zu tun, sondern mit einer angemessen radikalen Kritik fundamentaler Probleme des amerikanischen Wirtschaftssystems.

Neben postironischen Ausdrucksformen wollen die Herausgeber auch eine authentisch-amerikanische Linke denken: zwischen Lincoln und Marx, zwischen Demokratie und Sozialismus. Erfrischend, ist doch die Linke – selbst in den USA – oft gleichbedeutend mit plumpem Antiamerikanismus. Dagegen mangelt es an Ansätzen, die historische Kontinuität zwischen liberaler Demokratie und Sozialismus herauszuarbeiten: eine der Stärken des orthodoxen Marxismus. Für die Herausgeber von Jacobin ist Sozialismus nicht Gegensatz, sondern Verwirklichung der amerikanischen Demokratie: die Ausdehnung ihres emanzipatorischen Potenzials bis hin zur Freiheit von wirtschaftlicher Ausbeutung.

Jacobin wird ein Indikator des sich verändernden politischen Klimas in den USA sein. Das Wort „Socialism“ hat seinen Schrecken verloren, aber es wäre schon viel, wenn dies auch für die politische Realität einer gemäßigten sozialen Marktwirtschaft gelten würde.