Spontan oder gesteuert?

JAHRESTAG Vor zwanzig Jahren stürmten BürgerrechtlerInnen die Zentrale der DDR-Staatssicherheit in Berlin. Hatte die Stasi selbst dabei ihre Finger im Spiel?

Der Termin: Am 15. Januar 1990 versammelten sich Zehntausende vor dem Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Berliner Bezirk Lichtenberg. Die Demonstranten folgten einem Aufruf des Neuen Forums, das gegen die Vernichtung von Stasiunterlagen protestierte. Gegen 17 Uhr stürmte die Menge das Gelände. Bis heute ist nicht geklärt, ob die Stasimitarbeiter nicht selbst an der Erstürmung beteiligt waren.

Die Feier: Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Marianne Birthler, begeht den 20. Jahrestag der Besetzung der Berliner Stasizentrale mit einem kulturellen Abendprogramm in der Berliner Innenstadt am 15. Januar und einem Tag der offenen Tür im Archiv der Bundesbeauftragten in der ehemaligen Stasizentrale in Berlin am 16. Januar 2010 mit zahlreichen Veranstaltungen.

VON WOLFGANG GAST

Stasi raus, Stasi raus!“ Zehntausende aufgebrachter DDR-BürgerInnen ziehen mit dieser Parole am Abend des 15. Januar 1990 vor die Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg. Immer mehr Menschen folgen dem Aufruf des Neuen Forums und versammeln sich vor dem Dienstsitz des Armeegenerals Erich Mielke. Der Druck auf die stählernen Tore in der Normannenstraße wächst.

Der Zorn auf die Staatssicherheit ist enorm, denn nur wenige Tage zuvor ist das Ausmaß des Spitzelsystems in der DDR erstmals öffentlich bekannt geworden. Manfred Sauer, ein Mitarbeiter der neu installierten DDR-Regierung unter Hans Modrow, nennt gegenüber dem „Runden Tisch“ Zahlen, die alle Befürchtungen übertreffen: „Bis in die 80er Jahre hinein verdoppelte sich die Mitarbeiterzahl auf 85.000. Von diesen waren 21.100 unmittelbar operativ tätig.“ Darüber hinaus hätten 109.000 „Inoffizielle Mitarbeiter“ dem Apparat als Zuträger gedient.

Gegen 17 Uhr wird eines der Stahltore eingedrückt, die Menschen stürmen den Innenhof. Was die Menge in den Gebäuden vorfindet, lässt die Wut nur steigen. Im Haus 18, einem Versorgungsgebäude, wird ein Kühlkeller aufgebrochen, darin sind Delikatessen im Überfluss, Roastbeef etwa oder Haifischflossensuppe. Der stasieigene Supermarkt wird gestürmt, die Scheiben eines Reisebüros des MfS eingeworfen. Gegenstände werden aus den Fenstern geworfen; Möbel, Fahnen, Bücher, Akten.

5.340 Tonnen Papier

Warum es im Stasihauptquartier zu diesen tumultartigen Szenen kam, darüber wird noch heute gerätselt. Hatte die Stasi selbst ihre Hände im Spiel, um zu den Waffen greifen zu können, oder hatte sich der Zorn der Menschen einfach entladen, weil die Regierung die Stasi unter dem neuen Namen „Amt für Nationale Sicherheit“ in abgespeckter Form am Leben erhalten wollte? Bürgerbewegte vor Ort wollen sogar gesehen haben, wie sich die Tore von innen öffneten. Manch einer der Besetzer vermutete auch, fremde Geheimdienste könnten beim „Sturm auf die Stasi“ die Finger im Spiel gehabt haben. Konkrete Belege dafür gibt es aber nicht.

Heute wird das Dienstgebäude von Stasichef Erich Mielke als Museum genutzt. Mehr als 50.000 Besucher besichtigen jedes Jahr den Gebäudekomplex, und im Haus 1 liegt immer noch hinter Glas die Totenmaske Lenins auf Mielkes Schreibtisch. Die papierene Hinterlassenschaft der Staatssicherheit – 5.340 Tonnen schwer – wird ebenso wie Geruchsproben einstiger Dissidenten, Überwachungsvideos oder Tonbandmitschnitte dagegen von der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen verwahrt, sie stellt sie zum Zwecke der Aufarbeitung und Forschung der Öffentlichkeit zur Verfügung. Anlässlich des 20. Jahrestages der Besetzung lädt die Bundesbeauftragte Marianne Birthler am kommenden 16. Januar von 10 bis 20 Uhr zu einem Bürgerfest mit Vorträgen, Filmvorführungen und Lesungen in das Archiv der Zentralstelle in der Ruschestraße in Lichtenberg.

Vor dem Sturm auf die Berliner Normannenstraße waren seit Dezember 1989 DDR-weit die Bezirksverwaltungen des MfS von Bürgerrechtlern besetzt und in Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften „gesichert“ worden. Damit sollte verhindert werden, dass Unterlagen vernichtet wurden.

Möglicherweise sind diese Besetzungen sogar von der SED gelenkt worden. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Stasi-Landesbeauftragten von Sachsen und Berlin hätten sich Hinweise ergeben, dass die Partei den Geheimdienst zum Sündenbock machen wollte, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. Das berichtete etwa die Leipziger Volkszeitung Anfang Dezember letzten Jahres unter Berufung auf den sächsischen Stasi-Beauftragten Michael Beleites.

Die Besetzungen der Bezirksverwaltungen in Erfurt, Leipzig und Rostock am 4. Dezember 1989 sowie einen Tag später in Dresden seien demnach nicht spontan verlaufen. So sei es überraschend, dass Bezirks- und Militärstaatsanwaltschaften als bis dahin enge Verbündete der Stasi plötzlich in allen Städten synchron handelten. Selbst an Orten, an denen es keine Bürgerkomitees gegeben habe, hätten Stasi und Staatsanwälte von sich aus die SED-Presse und Bürgervertreter eingeladen, damit sie die Versiegelung der Archive dokumentierten. Damit sollte die Erstürmung der Dienststellen verhindert werden. Auffällig sei auch, dass die Partei durch die Besetzungen insgesamt aus der Schusslinie geraten sei.

Versiegelte Archive

Beleites’ Berliner Amtskollege Martin Gutzeit verweist zudem auf Verhandlungen von Bürgerrechtlern in Berlin am 3. und 4. Dezember mit dem damaligen SED-Regierungschef Hans Modrow, dem amtierenden Stasichef Wolfgang Schwanitz, dem DDR-Innenminister und dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt. Dabei sei besprochen worden, ob man einer Erstürmung der Leipziger Stasizentrale durch eine geordnete Besichtigung zuvorkommen könne.

Aber bei weitem nicht alle teilen die These von der SED-Steuerung. Der frühere Besetzer und heutige Leiter des Leipziger Stasi-Museums, Tobias Hollitzer, hält es für geradezu absurd, dass die SED das Vorgehen gesteuert haben könnte. Die Besetzung sei einer der großen Siege der friedlichen Revolution und keinesfalls im Interesse der SED oder der Staatssicherheit gewesen.