Friesisch-Forscher Alastair Walker: „Die Basis bröckelt weg“
40 Jahre mit dem Friesischen befasst: Ein Gespräch über Feldforschung und die Schönheit von Worten.
taz: Herr Walker, wann ist ein Wort schön?
Alastair Walker: Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Ein Wort kann rein phonetisch schön sein, wenn es sich gut anhört. Oder es ist schön, weil es eine bestimmte Konnotation hat.
Sie sind Friesisch-Forscher. Haben Sie ein Beispiel aus dieser Sprache?
Wir haben mal ein Experiment gemacht mit unseren Studenten, die sprechen verschiedene Friesisch-Mundarten. Als sie alle zusammen waren, haben wir eine Art Gemeinfriesisch entwickelt. Wir haben dafür aus den verschiedenen Mundarten Wörter genommen, die sich schön anhören. Zum Beispiel das Wort Zuhause. „Ich bin Zuhause“ heißt auf Festlandsfriesisch: „Ik ban ine“ und auf Föhrer und Amrumer Friesisch: „Ik san aran“. Und aran hört sich wirklich sehr schön an, viel schöner als ine.
Ist das auch Ihr friesischer Lieblingsausdruck?
Nein, der lautet: „Wat’n häi“. Das heißt übersetzt „Welche Freude“ oder „Ach, wie schön!“. Das sage ich immer wieder.
64, ist seit 1972 Mitarbeiter der Nordfriesisch-Wörterbuchstelle am Institut für Skandinavistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Uni Kiel. Im September geht er in den Ruhestand und will in Schleswig-Holstein bleiben, weiter Feldforschung betreiben und vor allem mehr schreiben. Er spricht Englisch, Deutsch, Plattdeutsch, Dänisch, Französisch, Festlandsfriesisch und Föhrer Friesisch (Fering), Sylter Friesisch (Sölring). Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
Sie sind britischer Staatsbürger, woher kommt Ihre Begeisterung für die Mini-Sprache Friesisch?
Ich habe in England die Fächer Deutsch und Allgemeine Sprachwissenschaft studiert. Da mussten wir das dritte Studienjahr an einer deutschen Universität verbringen und eine schriftliche Arbeit verfassen. Ich hatte einen sehr guten Professor in England, der gesagt hat: Walker, gehen Sie nach Kiel und schreiben Sie eine Arbeit über das Friesische. Ich wusste nicht, was das ist.
Was haben Sie dann in Kiel gemacht?
Ich wurde ins Friesische eingeführt und habe Feldforschung betrieben: Ich war sechs Wochen auf einem Bauernhof in Dagebüll und habe von dort aus jeden Tag Friesen mit meinem Tonbandgerät besucht. Das war meine Bachelor-Arbeit. Ich bin dann als Stipendiat noch mal nach Kiel gekommen und wurde 1972 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Nordfriesischen Wörterbuchstelle.
Was sind dort Ihre Aufgaben?
Seit 1988 hat die Wörterbuchstelle etwa zwölf Wörterbücher herausgebracht. Außerdem betreibe ich Mundartkunde, ich habe in fast allen Dörfern auf dem Festland Tonaufnahmen gemacht.
Wie läuft so ein Besuch von Ihnen bei Friesisch-Sprechern ab?
Ich frage: Wie sagst du in deiner Mundart laufen, rennen, die Kuh, der Deich und so weiter. Ich habe rund 1.100 Wörter, die ich abfrage. Dann erzählen sie das, ich nehme das auf und anschließend analysiere ich die Mundart. In einem anderen Projekt untersuche ich die sprachliche Sozialisierung und frage: Welche Sprachen sprichst du, wie hast du sie gelernt und wann? Eine meiner Lieblingsinformantinnen, Sophie, war schon fünfsprachig, bevor sie zur Schule kam.
Wie geht das?
Ihr Vater war Reichsdäne, also ein dänischer Muttersprachler aus Dänemark, ihre Mutter kam aus Nordfriesland und hat zu Hause Friesisch gesprochen. Die Familiensprache wurde Festlandsfriesisch, Sophies Muttersprache. Von ihren Großeltern väterlicherseits hat sie Dänisch gelernt. Die Mutter hatte eine Cousine auf Sylt – so hat sie passive Kenntnisse des Sylter Friesisch erworben. Dann hat sie mit den anderen Kindern im Dorf gespielt, die nur Plattdeutsch sprachen. Und es gab auf dem Hof einen Knecht, der aus Flensburg kam, von dem Sophie Hochdeutsch gelernt hat.
Wann war das?
In den 1920er-Jahren. Seit Anfang der 90er-Jahre habe ich Sophie oft besucht und befragt.
Das ist lange her. Gibt es heute noch fünfsprachige Fünfjährige in Nordfriesland?
Wir haben das Problem, dass die Mehrsprachigkeit stark nachgelassen hat. Deshalb ist ein großer Teil meiner Arbeit die Dokumentation mit Tonband. Wir haben eine umfangreiche Sammlung von Tonaufnahmen der friesischen Mundarten, die von verschiedenen Kollegen gemacht worden sind. Aber ich muss noch mehr machen. Nicht nur das Friesische soll dokumentiert werden, sondern auch der Sprachwandel.
Was stellen Sie fest?
Es gibt noch Kinder, die Friesisch sozialisiert werden. Es gibt etwa eine ganz spannende dreisprachige Grund- und Hauptschule, die friesisch-dänische Schule in Risum-Lindholm. Die Kinder sprechen hier drei Sprachen.
Aber das ist doch eher die Ausnahme, oder?
Die Zahl der Friesisch-Sprecher hat bedauerlicherweise in den letzten 40 Jahren nachgelassen.
Über welche Dimensionen reden wir?
Als ich anfing, hat man von 10.000 Friesisch-Sprechern gesprochen, heute eher von 8.000, ein Kollege schätzt die Zahl auf 5.000 Menschen. Ich weiß es nicht.
Merken Sie die Veränderung auch bei Ihren Studenten?
Natürlich. Was auffällt: Wir haben rund 50 Studierende, die an unseren Veranstaltungen teilnehmen. Am Anfang gab es Druck von unten: Es gab friesische Studenten, die sagten, wir brauchen dringend ein Fach Friesisch. Dadurch ist das Fach etabliert worden. Damals sprachen viele Studenten Friesisch. Heute kommen die wenigsten aus Nordfriesland, sie kommen aus allen Teilen Deutschlands und zum Teil aus dem Ausland.
Mit welcher Folge?
Wir können nicht mehr so leicht Friesisch als Umgangssprache benutzen, weil es nicht mehr die Muttersprache der Studierenden ist. Das zeugt von diesem allgemeinen Sprachwechsel in Nordfriesland. Die Basis bröckelt weg.
Das klingt frustrierend. Warum sind Sie in Kiel geblieben?
Ich finde die Situation außerordentlich spannend hier. Sie dürfen nicht vergessen: Ich komme aus dem monolingualen England. Und ich mag die Friesen, auch weil sie mich so liebevoll aufgenommen haben. Außerdem liegt mir die Arbeit draußen im Feld.
Was ist Ihr Ansatz: Wie kann Friesisch gestärkt werden?
Wir müssen Friesisch in der Schule weiterentwickeln, wir brauchen eine Mehrsprachigkeitsdidaktik. Ein Problem ist, dass Englisch inzwischen in der dritten Klasse Pflichtfach ist und viele Eltern deshalb sagen: Mein Kind kann auf keinen Fall zwei Fremdsprachen gleichzeitig lernen. Das ist falsch. Das ist eine Frage der richtigen Didaktik. Früher hat man es den Eltern nahe gelegt, nur Hochdeutsch mit ihren Kindern zu sprechen, um ihnen den Schulbesuch zu erleichtern. Da könnte man die Frage formulieren: Ist das Kind für die Schule da oder die Schule für das Kind?
Sie meinen: Wenn die Schule für das Kind da ist, dann stellt sie sich darauf ein, dass die Kinder eine Regionalsprache sprechen, wenn sie eingeschult werden?
Ja, so müsste das sein. Aber das haben Schulen oft nicht getan. Das ist keineswegs nur ein Problem in Nordfriesland, sondern weltweit. Kinder sind geschlagen worden, wenn sie die Regionalsprache in der Schule verwendet haben.
Sie engagieren sich auch in der internationalen Minderheiten-Arbeit. Warum begeistern Sie sich so dafür?
Ich interessiere mich für Europa, für verschiedene Sprachen und Kulturen. Für mich ist es ein idealer Urlaubsort, wenn ich in die Berge gehen kann, um zu wandern, wenn es dort eine spannende sprachliche Situation gibt, in Chur, im rätoromanischen Teil der Schweiz, beispielsweise oder im österreichischen Kärnten, wo es auch Slowenen gibt. Wenn es dann auch noch eine gute Küche gibt, ist es perfekt. Und wie ein Staat mit Minderheiten umgeht, ist auch eine Frage von Demokratie, von Menschenrechten. Wenn ich unterwegs bin, schaue ich mir etwa an, wie die Minderheiten dort mit Schul-, Hochschulbildung, Medien umgehen. Dann vergleiche ich die verschiedenen Minderheiten – auf der Suche nach Erfahrungen, aus denen wir auch für Nordfriesland etwas lernen können.
Haben Sie mit Ihren Kindern Friesisch gesprochen?
Nein. Aber sie sind zweisprachig aufgewachsen. Ich habe mit ihnen Englisch geredet, meine Frau Deutsch.
Warum kein Friesisch?
Weil ich meine Muttersprache mit den Kindern sprechen wollte. Außerdem sind wir zu weit weg von Nordfriesland. Wir wohnen in Nortorf – eine kleine Stadt in der Mitte Schleswig-Holsteins. Mein ältester Sohn hat noch etwas Plattdeutsch beim Spielen gelernt, als wir in einem kleineren Dorf gelebt haben – aber in Nortorf hören Kinder kaum noch Platt.
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