„Es gibt keine Gesellschaft ohne Müll“

ARCHÄOLOGIE Das Erforschen des Wegwerfverhaltens könnte sich zu einer eigenständigen Disziplin entwickeln, sagt Greta Civis

■ ist Archäologin und promoviert an der Universität Wien über Müll in der mittelalterlichen Siedlung Diepensee in Brandenburg.

taz: Frau Civis, Archäologen graben nicht nur alte Schätze aus, sondern wühlen auch in Müll. Was erhoffen Sie sich davon?

Greta Civis: Jedes menschliche Leben produziert irgendeine Art von Müll und hinterlässt damit Spuren. Daraus können wir Rückschlüsse ziehen auf menschliche Verhaltensmuster.

Zum Beispiel?

In den USA gibt es seit den 70er Jahren ein Forschungsprojekt: Archäologen haben moderne Müllkippen ergraben und wöchentlich Hausmüll aus Tucson in Arizona untersucht. Sie stellten fest, dass in ärmeren Gegenden die Menschen kleinere Packungen kaufen und in reicheren Gegenden größere.

Dies ist ein Beispiel aus der heutigen Zeit. Was tragen denn archäologische Erkenntnisse über Müll zu dem Bild bei, das wir von der Vergangenheit haben?

Ich glaube, dass sie etwas hinzufügen zu dem Bild – und es sehr beleben. Die Sache mit dem Müll und der Entsorgung ist sehr eng gekoppelt an alltägliche Handlungen und Vorstellungen, die sonst nicht erforscht werden können. Leute interessieren sich nicht nur dafür, wie ein Topf früher ausgesehen hat, sondern auch, wer ihn benutzt hat und warum er dort gelandet ist.

Ist die Müllarchäologie tatsächlich eine eigene Disziplin?

Im Moment sehe ich das noch nicht. Es gibt einzelne archäologische Arbeiten zu Müll und zum Thema Wegwerfen. Doch gerade passiert sehr viel: Viele Fachtagungen beschäftigen sich dieses Jahr mit diesem Thema, vielleicht entwickelt sich daraus bald eine eigene Disziplin. Dann könnten wir vergleichen, wie sich der Umgang mit Müll über die Epochen verändert hat. Gerade erforscht das jede Disziplin für ihre Epoche. Ich mache das für das Mittelalter.

Was ist das Besondere an der Müllarchäologie?

Ich betrachte die Fundstücke nicht nur als das, was sie vor ihrer Entsorgung waren, also etwa als Topf. Sondern auch als Scherben, als Dinge, die kaputtgegangen sind und entsorgt wurden.

Wie hat sich denn der Umgang mit Müll verändert?

Es gab und gibt keine mülllose Gesellschaft. Schon seit der Antike sind stadtrechtliche Verordnungen bekannt, die vorschreiben, wie die Leute zu entsorgen haben. Allerdings wird nicht jeder Müll in jedem Kontext als gleich problematisch betrachtet. Es gilt zum Beispiel als absolut unökologisch, im Supermarkt Plastiktüten zu kaufen – dabei wird gerade die Plastiktüte oft als Mülltüte wiederverwendet.

INTERVIEW: MAZLUM NERGIZ,
JAKOB RONDTHALER