Eine Stadt übernimmt Verantwortung

Im Auftrag des Göttinger Stadtarchivs forscht eine Historikerin über Zwangsarbeiter in der niedersächsischen Stadt. Die Recherchen werden im Internet veröffentlicht. Unter Fachleuten gilt das Projekt als bundesweit einmalig

Das „Russenbrot“ bestand aus Rübenschnitzeln, Roggenschrot und Strohmehl. Manchmal war auch Laub beigemischt. Zu essen bekamen es nicht nur Russen, sondern auch Zwangsarbeiter anderer Nationalitäten, die in den Kriegsjahren in Göttingen beschäftigt wurden. Nach Erkenntnissen der Historikerin Cordula Tollmien handelte es sich um rund 10.000 Frauen und Männer. Weitere 15.000 sollen im Gebiet des heutigen Landkreises Göttingen zur Arbeit gepresst worden sein.

Im Auftrag des Göttinger Stadtarchivs hat die Wissenschaftlerin unter anderem erforscht, wo diese Zwangsarbeiter schufteten und wie ihre Lebensverhältnisse waren. Die vorläufigen Ergebnisse ihrer im Jahr 2000 begonnenen Recherchen sind jetzt im Internet (www.zwangsarbeit-in-goettingen.de) einzusehen.

„Bundesweit einmalig“, beurteilen Fachleute die Untersuchung und die Präsentation. Immerhin bekenne sich die Stadt damit unübersehbar zu ihrer Schuld. Denn alleine 500 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen waren direkt bei der Kommune beschäftigt. Tollmien zufolge haben nahezu alle Göttinger Ämter, Dienststellen und öffentlichen Betriebe davon profitiert. Zivile Arbeitskräfte und Kriegsgefangene waren unter anderem bei der Müllabfuhr, beim Gaswerk, im Stadtforstamt, als Putzkräfte in Schulen und im Theater eingesetzt. Die Stadtverwaltung hatte sich bereits mit Kriegsbeginn um die Zuweisung von „Ostarbeitern“, später auch von sowjetischen Kriegsgefangenen bemüht. Weitere wurden nur für bestimmte Aufträge von der Wehrmacht oder von Privatfirmen „ausgeliehen“.

Die Göttinger Bevölkerung akzeptierte die Beschäftigung und die schlechte Behandlung von Zwangsarbeitern, stellt Tollmien klar. Neben den Arbeitsbedingungen und mangelhafter Ernährung litten viele Betroffenen auch unter Beleidigungen, Schlägen und Misshandlungen.

Die Stadt Göttingen war aber nicht nur als Arbeitgeberin in das System der Zwangsarbeit verstrickt. Von der Wirtschaft genutzte Zwangsarbeiterlager wurden auf städtischen Grundstücken errichtet. Auch für die Versorgung, Erfassung und Kontrolle der rund 10.000 privat beschäftigten Zwangsarbeiter war die Stadt verantwortlich.

Die Wissenschaftlerin nahm auch Kontakt zu noch lebenden, ehemaligen Zwangsarbeitern auf, von denen 2003 zwei nach Göttingen eingeladen wurden. Die damals 78 und 82 Jahre alten Frauen aus der Ukraine berichteten bei ihrem Besuch unter anderem in Schulen und in einem „Erzählcafe“ über ihre Erlebnisse. In Göttingen hatten sie damals für die Deutsche Reichsbahn und die Firma Sartorius schuften müssen. Im Beisein der Frauen wurde auf Beschluss des Stadtrates ein Gedenkstein eingeweiht.

Die Bereitschaft, sich mit der eigenen Geschichte und Verantwortung auseinander zu setzen, ist indes nicht überall in Göttingen verbreitet. In der Göttinger Universitätsklinik stießen recherchierende Historiker auf Widerstand. So habe der Vorstand des Krankenhauses zunächst ein Magazin mit neurologischen und psychiatrischen Patientenakten gesperrt. Erst nach Anfragen britischer Journalisten sei das Archiv geöffnet worden.

Reimar Paul