Fotografin über Obdachlosen-Reportage: „Ich hatte Schwellenangst“
Ein halbes Jahr lang hat Heike Ollertz in einem Hamburger Obdachlosenasyl fotografiert. Und fragte sich: Was kann ich zeigen - und was nicht?
taz: Frau Ollertz, Sie haben sechs Monate lang das Leben in der Hamburger Obdachlosenunterkunft „Pik As“ dokumentiert. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie zum ersten Mal dort waren?
Heike Ollertz: Es war im Winter, im Dezember, es standen nicht sehr viele Leute draußen, weil es eben sehr kalt war, aber ich hatte schon Schwellenangst – Angst, über die Schwelle zu treten. Die hat auch eine ganze Weile angehalten, sodass ich gar nicht wusste, ob ich das schaffe: fotografisch, emotional und ob ich den Zugang zu den Menschen bekomme.
Wie sind Sie vorgegangen?
Ich habe erst einmal lange mit Tobias Barta gesprochen, einem der Sozialarbeiter, damals kommissarischer Leiter des Hauses. Er hat mir alles gezeigt, wir hatten ein sehr offenes Gespräch. Vom Träger des „Pik As“, dem städtischen Unternehmen Fördern und Wohnen, habe ich mir das Okay geholt, dass ich bei meinen Bildern freie Hand habe, denn ich wollte auf keinen Fall, das mir hinterher jemand sagt, was ich zeigen darf und was nicht. Das war dann unsere Vereinbarung: „Ich komme hierher, um umgeschönt zu zeigen, was ist; aber ich möchte euch unterstützen.“
Und die Bewohner?
Natürlich habe ich alle Bewohner, die ich fotografiert habe, vorher gefragt. Und ich habe auch von allen eine schriftliche Einverständniserklärung, wo auch genau erklärt wird, in welchem Rahmen die Bilder gezeigt werden.
45, geboren in Duisburg, studierte in Berlin und ist seit 2008 freie Fotografin in Hamburg. Sie arbeitet unter anderem für Brigitte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mare und National Geographic.
Sie sagten, Sie waren unsicher, ob Sie es fotografisch hinbekommen würden.
Zum einen ist Sozialreportage überhaupt nicht mein Schwerpunkt. Ich mache viele Reisegeschichten und Portraits für Magazine, da werde ich nicht häufig mit sozialen Konflikten konfrontiert. Zum anderen hatte ich einen Konflikt mit mir selbst: „Was kann ich wie zeigen?“ Ich habe mich dann entschieden: Ich nehme nur vorhandenes Licht und nach Möglichkeit kein Stativ, um so beweglich und unauffällig wie möglich zu sein. Ich wusste anfangs auch nicht, ob ich es schaffe, die Nähe zu den Menschen auszuhalten. Gut, Nähe ist jetzt vielleicht ein zu großes Wort, aber wie würde es sein, vielleicht absolut betrunkenen, vollgedröhnten, psychiotischen Leuten zu begegnen, die vielleicht rumschreien, und das auch noch zu fotografieren?
Gab es Szenen, in denen Sie nicht fotografiert haben?
Die gab es und das hat mich sehr beschäftigt, weil ich Menschen in Situationen gesehen habe, in denen ich kein Foto machen wollte – und unsicher war, ob das falsch ist. Weil ich mich gefragt habe: „Würde eine gute Bildjournalistin jetzt nicht ein Foto machen?“ Nur – ich fand es nicht richtig!
Ein Beispiel?
Einmal saß da einer vor mir in einem so jämmerlichen Zustand, es war wie ein Abziehbild eines Obdachlosen, es hat die Härte und die Konsequenz von einem Leben auf der Straße auf den Punkt gebracht. Aber ich habe es nicht gemacht ...
Was war das Besondere?
Sein Zustand. Und dann hatte er diese schweren, braunen Stiefel an, saß da und allen Ernstes klappt der Schuh vorne hoch, die Sohle hatte sich gelöst und man sah den blanken Fuß – im Winter. Das war schon fast kitschig.
Ein Stillleben.
Genau. Aber der Mann war in einem wirklich erbärmlichen Zustand, total psychiotisch, eingepinkelt, abgemagert und betrunken. Ich hätte ihn fragen können, ob ich ihn fotografieren darf, er hätte vielleicht Ja gesagt und womöglich hätte er mir das auch unterschrieben. Aber er hätte bestimmt nicht gewusst, worauf er sich da einlässt. Und mir war klar: Das mache ich nicht! Kurze Zeit später hat der „World Press Photo“-Gewinner Paul Hansen in einem Interview einen sehr schönen Satz gesagt: „Die besten Bilder sind oft die, die wir nicht machen.“ Das war für mich die wichtigste Erkenntnis in diesem Arbeitsprozess: zu verstehen, dass es manchmal besser ist, Bilder nicht zu machen.
Neben den Porträts haben Sie auch viele Bilder von Details gemacht: Blicke in Räume, auf Wände …
Räume und Wände waren spannend: Man kann an dem, was die Leute noch haben oder womit sie sich umgeben, unheimlich viel erzählen. Was sie an die Wand pinnen, obwohl sie nur eine Tüte mit ihren letzten Sachen haben, das erzählt viel über ihre Lebenssituation.
Gibt es Fotos, die Sie gemacht haben, aber nun nicht zeigen?
Die gibt es. Einmal habe ich bei der Entlausung fotografiert, da kam ein externer Obdachloser, der meinte: „Macht bitte mal was, die Viecher nerven.“ Er war ziemlich angetrunken, er hatte unter der Jeans eine lange Unterhose an, sitzt da, relativ breitbeinig, raucht eine Zigarette und du siehst: Die Unterhose ist total gelb, weil sie so eingepinkelt ist. Das Foto habe ich gemacht, aber ich zeige es nicht. Ich zeige eines, wo er sitzt, aber man sieht das nicht. Und dann gibt es Fotos von Beinwunden, die einfach schlimm sind: Offene Beine sind ein großes Problem im „Pik As“ und ich finde es wichtig, das auch zu zeigen. Und es gibt ein solches Bild, aber es ist eine Totale, keine Großaufnahme. Eine Großaufnahme mag mehr schocken, aber sie erzählt auch nicht mehr als ein Blick von weiter weg. Einmal allerdings habe ich eine Großaufnahme gemacht: auf Wunsch des Krankenpflegers, für die Ärztin.
„Pik As – 100 Jahre Nachtasyl“: bis 8. November, Hamburg, Freelens Galerie. Das Buch zur Ausstellung kostet 20 Euro. Es ist erhältlich in der Buchhandlung in den Hamburger Deichtorhallen oder unter
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