Animationsfilm: Auf dem Fließband durch Neukölln

Vor 20 Jahren kamen Alejandra Tomei und Alberto Couceiro aus Argentinien nach Berlin, um Trickfilme zu produzieren. Die letzten Hürden wollen sie nun per Crowdfunding nehmen.

Hermann Everyman isst am Fließband. Bild: Animas-Film

Ein Fließband bestimmt das Leben von Hermann Everyman. Der Wecker schiebt sich klingelnd an seinem Bett vorbei, das schnelle Frühstück bereitet ihm eine Maschine, für den Weg zur Arbeit stellt er sich selbst aufs Laufband – Everyman ist immer in Bewegung. Er läuft um sein Leben, aber er kommt nicht voran. Wird er gegen die Maschine aufbegehren oder auf dem Fließband ins Grab gefahren?

Everyman ist eine Puppe, etwa so groß wie ein Unterarm. Gerade steht er auf einer kleinen Bühne vor einem roten Samtvorhang im Neuköllner Studio Animas-Film. Er trägt einen feinen Anzug, denn heute ist ein großer Tag, Everyman wird heiraten. Alberto Couceiro bringt den Bräutigam in Szene, bewegt die Arme und den Kopf in winzigen Schritten, Millimeter um Millimeter. Jedes Mal wird ein Foto gemacht. Das Fließband, das im Film riesig wirkt, ist in Wirklichkeit gerade mal einen Meter lang. Alejandra Tomei steht daneben, ihre Aufgabe wird es sein, die vielen tausend Bilder zu einem Film zusammenzuschneiden. Sie und Couceiro sind ganz in schwarz gekleidet, als hätten sie Angst, ihren Figuren die Aufmerksamkeit zu stehlen. „Wir erschaffen hier eine Welt“, sagen die beiden über ihr Neuköllner Studio.

Hermann Everyman ist die Hauptfigur des animierten Kurzfilms „Automatic Fitness“, dem aktuellen Projekt des Neuköllner Filmkünstler-Paars. Der Film zeigt, wie automatisiert das Leben des modernen Menschen abläuft – von der Geburt bis in den Tod. „Der Film ist auch autobiografisch“, sagt Alejandra Tomei. „Ich kenne das Gefühl, dass das Leben am Fließband abläuft.“ Bevor sie ihre eigenen Filme machte, arbeitete Tomei bei der Produktion von Asterix in Amerika. Dort war sie für die Farbgestaltung zuständig, ein Rädchen im Getriebe. Jetzt ist sie glücklich, selbstbestimmt arbeiten zu können, von der Filmidee über das Basteln der Kulisse und Figuren bis zum fertigen Film.

Nach Berlin kamen Tomei und Couceiro 1993, aufgewachsen sind sie in Buenos Aires. Seit sie sich kennen, machen sie zusammen Kunst. Ihr erster gemeinsamer Trickfilm von 1995 zeigte ein lebendiges Hemd, das am Frühstückstisch saß – ein Interesse für Surreales hatten sie damals schon. Heute hat das Paar zwei Kinder: „Für die ist unsere Arbeit ganz normal, aber wenn sie Freunde mit ins Studio bringen, staunen die.“

Die Filmideen entwickeln beide zusammen, bei der Produktion gibt es eine Arbeitsteilung. Couceiro animiert die Figuren vor der Kamera, Tomei arbeitet an Modellen und bearbeitet die Bilder am Rechner. „Ich kann nicht stundenlang in dieser Höhle sitzen“, sagt sie über die Arbeit ihres Partners im dunklen Studio.

Passanten, die durch die Fenster des ebenerdig gelegenen Studios im Schillerkiez schauen, könnten es für die Hobbywerkstatt eines Modellbauers halten: Ein Tisch quillt über von Häuschen aus Pappe, im Hintergrund stehen Figuren mit austauschbaren Köpfen. Von der Straße aus nicht sichtbar sind eine Metallwerkstatt, ein Raum mit einer drehbaren Erdkugel vor einem Greenscreen und das Studio, in dem Everyman animiert wird – „die Höhle“, wie auch Couceiro sagt.

Die beiden Künstler sind verspielt, das sieht man ihrem Arbeitsplatz an. Ihre Figuren entnehmen sie dem Alltag. „Wir sammeln komische Dinge“, sagt Couceiro. „Rohstoffe“ nennt er die Gegenstände, die sie auf dem Schrottplatz finden. So entstand beispielsweise aus einer alten DDR-Lampe ein Roboter: „Wir sollten einen Vertrag mit der Berliner Stadtreinigung abschließen, um ihren ganzen Schrott nutzen zu können“, sagt Tomei. In ihrem anderen Filmprojekt – „Canned“ – spielt „Passato Pomodoro“, eine Tomatendose, die Hauptrolle. Doch der Film liegt auf Eis, erst muss Everyman noch eine Weile übers Laufband hetzen und „Automatic Fitness“ fertig werden.

Auch wenn die Arbeit im Studio spielerisch und leicht wirkt: Die Produktion des Films läuft nicht ohne Probleme. Seit 2007 arbeiten die beiden an „Automatic Fitness“, zwei Jahre waren eigentlich eingeplant. Sowohl den Zeitaufwand als auch die finanzielle Dimension hatten sie unterschätzt: 120.000 Euro haben sie bereits in den Film gesteckt, jetzt im Endspurt droht ihnen das Geld auszugehen.

Ein Grund dafür liegt auch am Genre. Die öffentlichen Fördermittel reichen häufig für Animationsfilme nicht aus. „Einen Spielfilm von 12 Minuten kann man in drei Monaten drehen, ein Animationsfilm in dieser Länge braucht mehrere Jahre“, sagt Couceiro. Wenn in einer Szene fünf Figuren animiert werden müssten, könne es manchmal mehrere Tage dauern, bis wenige Sekunden im Kasten sind. „Man braucht viele Hände für Stop Motion“, sagt Tomei.

Bisher gibt es nur wenige große und kommerziell erfolgreiche Stop-Motion-Filme. Das einzige, was wirklich gut funktioniere, seien Kinder- und Familienfilme wie „Wallace&Gromit“ von der britischen Produktionsfirma Aardman Animations. Und Autorenfilme hätten es noch schwerer als normale Spielfilme. Haben sie schon mal daran gedacht hinzuschmeißen? „Nein“, sagt er, „ich schon“, sagt sie.

Auch der Standort spiele für ihre Arbeit eine große Rolle: Deutschland hinke hinterher, England sei weiter entwickelt, nicht nur wegen Aardman. Wegziehen kommt für sie nach 20 Jahren trotzdem nicht in Frage: „Berlin ist für uns die tollste Stadt der Welt.“ Seit über zehn Jahren arbeiten sie in Neukölln. Und langsam öffne sich auch Deutschland für Animationsfilme: „Das Publikum ist bereit, die Produzenten sind es noch nicht“, sagt Couceiro. In Berlin sind aber in den vergangenen Jahren ein paar weitere kleine Studios für Animationsfilme entstanden.

Ende Januar soll „Automatic Fitness“ endlich fertig sein, dann geht er für zwei bis drei Jahre auf Festivaltournee. Anschließend zeigt Arte den Film auch im Fernsehen. Die Aufnahmen sind fast fertig, es fehlen nur noch wenige Sequenzen, Schnitt und Sound. Zwei von zwanzig Minuten des Films gibt es bereits im Internet zu sehen, sie sollen Lust darauf machen, den Film zu unterstützen. Um den Film fertigzustellen, sammeln Tomei und Couceiro jetzt Geld auf einer Crowdfunding-Plattform im Internet: Wer keine drei Jahre auf die Ausstrahlung bei Arte warten will, wird für seine Spende mit einem Downloadlink belohnt. Besonders großzügige Geldgeber werden zur Premiere des Films in Berlin eingeladen oder erhalten als Dank Herrn Everyman oder eine andere Puppe aus dem Film.

Tomei ist optimistisch und freut sich über das digitale Feedback: „Es ist schön zu merken, dass unser Film vielen Menschen gefällt.“ Knapp 4.000 Euro haben sie bereits, bis Mitte Dezember müssen es 13.000 sein, damit Hermann Everyman doch noch ans Ziel kommt.

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