Freie Fahrt für wenige Vorpommern

Die umstrittene A20, die Ostseeautobahn, ist endgültig für den Verkehr freigegeben. Die Menschen vor Ort haben von der Verbindung zwischen Lübeck und Stettin wenig: Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung werden sich nicht erfüllen

VON ANNETTE JENSEN

324 Kilometer Asphaltpiste sind fertig gestellt: Gestern wurde die Ostseeautobahn eingeweiht. Offiziell verläuft sie von Lübeck nach Stettin – tatsächlich mündet sie bei Pasewalk in Brandenburg auf die A11, die von Berlin nach Polen führt. Die A20 gilt als wichtiger Abschnitt eines transeuropäischen Autobahnnetzes.

1,9 Milliarden Euro hat das Projekt gekostet und damit sogar weniger als ursprünglich veranschlagt. Mehrere Prozesse hatten Umweltschützer angestrengt, konnten sich aber in keinem Fall durchsetzen.

„Wie ein eiserner Vorhang“ verlaufe die Straße durch die Eiszeitlandschaft in Mecklenburg-Vorpommern, beschreibt Corinna Cwielag vom Bund für Umwelt und Naturschutz in Schwerin das Bauwerk. An weiten Teilen der Trasse stehen links und rechts hohe Wildschutzzäune. Rehe und Kröten können die A20 nur an wenigen Stellen durch Grünbrücken oder Tunnel überwinden.

Im Osten zerschneidet die A20 das Peenetal – das zuvor längste zusammenhängende Flusstalmoor Mitteleuropas, in dem seltene Tiere wie Feuerfalter und Fischotter zu Hause sind. Umweltschützer konnten sich mit dem Vorschlag, die Autobahn hier durch einen Tunnel zu führen, ebenso wenig durchsetzen wie bei der Querung der Wakenitz am Westende der Trasse.

Nur kurzfristig hielt ein Gerichtsbeschluss die Bauarbeiten hier auf. Die Grünen, die zu Oppositionszeiten die Ostseeautobahn stets kritisiert hatten, stellten sich weder in Berlin noch Kiel quer, als sie mit auf der Regierungsbank saßen.

Vor allem grüne, aber auch SPD-Politiker plädieren stets dafür, Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Die Ostseeautobahn zeigt beispielhaft die genau entgegengesetzte Weichenstellung. „Zwischen Lübeck und Rostock gibt es keine direkte Zugverbindung mehr, und der Fernverkehr wurde sogar ganz gestrichen“, kritisiert Michael Frömming, Geschäftsführer vom VCD-Niedersachsen. Und da, wo Schienenstrang und Autobahn sich unmittelbar gekreuzt hätten, verzichtete die Landesregierung aus Kostengründen auf eine Brücke. Sie machte die Bahnstrecke Wismar–Karow lieber ganz dicht.

Vor allem im extrem dünn besiedelten Ostteil der Trasse wird die A20 wohl fast ausschließlich dem Schwerlast-Transitverkehr von und nach Polen dienen. Niemand glaubt noch, dass sich hier reihenweise Investoren ansiedeln. So hatten es viele Bürgermeister kurz nach der Wende gehofft – als ihnen Helmut Kohl blühende Landschaften versprach.

Damals haben kritische Verkehrswissenschaftler bereits vor falschen Erwartungen gewarnt: Bisher hätte keine Autobahn zum Aufschwung einer ländlichen Region geführt. Schon jetzt verliert Ostmecklenburg Jahr für Jahr an Bevölkerung. Vor allem junge Frauen wandern ab in den Westen.

Im Westteil der A20 zwischen Lübeck und Rostock ist mancherorts allerdings eine gegenteilige Bewegung erkennbar: Aufgrund der deutlich niedrigeren Löhne im Osten haben einige Lübecker Unternehmen Betriebsteile hinter die Landesgrenze nach Polen verlegt.

Eine zentrale Begründung für die Ostseeautobahn war stets auch die bessere Abwicklung des Urlaubsverkehrs. Tatsächlich verläuft die Ostseeautobahn jedoch über weite Strecken 50 bis 60 Kilometer von der Küste entfernt. Ohne Zweifel werden viele Bädergemeinden nun einen schnellen Straßenanschluss an die Trasse fordern.

Auch im Westen soll die Europa-Magistrale weitere Straßenbauten nach sich ziehen. Der Anschluss von Lübeck nach Bad Segeberg ist bereits im Bau. Und dahinter soll die Autobahn westlich von Hamburg über die Elbe bis nach Bremerhaven führen.