Schubladen aufräumen

Tagtäglich begegnen uns Menschen, die anders sind. Und weil es so viele sind und man nicht immer die Zeit hat, sich mit ihren Lebensläufen ausgiebig auseinander zu setzen, steckt man sie in Schubladen. Damit das nicht so bleibt, räumen wir sie auf

Schon ein kleines Kind fängt ganz vorsichtig mit zwei, drei Schubladen an. Je älter es wird, desto mehr kommen hinzu. Und ehe man sich versieht, verschwinden ganze Gruppen darin, ohne sich dagegen wehren zu können. Schon geistern Bilder von „den Russen“, „den Türken“ oder einfach „den Ausländern“ in den Köpfen herum.

Die Initiative „Krass“ (Klub Rassismus ablehnender Schülerschaft) am Friedrich-List-Gymnasium in Gemünden am Main will sich mit diesem „Ordnungssystem“ nicht abfinden. SchülerInnen aus der Ober- und Mittelstufe organisieren deshalb seit dem letzten Schuljahr Kulturwochen unter dem Motto „Spielend Schubladen aufräumen“.

Die Überlegung ist einfach: Je kleiner die Schubladen in unseren Köpfen sind, desto einfacher kann man sie aufräumen, vielleicht sogar überflüssig machen. Deshalb sollte mit diesen Aufräumarbeiten nicht im Omialter angefangen werden, sondern möglichst schon beim Kindergartenkind, das noch ohne verfestigte Vorurteile neugierig auf andere Menschen zugeht. Krass setzt sein Projekt in einem Alter an, in dem es die unbelastete Neugier des Kindergartenkindes nicht mehr gibt. Elf- und Zwölfjährige orientieren sich sehr stark am Weltbild ihrer Eltern. Sie schnappen die Meinung von Mama oder Papa am Mittagstisch auf – und übernehmen sie. Besonders in ländlichen Regionen wie Gemünden hat diese Vererbung von Weltbildern Tradition. Häufig haben diese wenig mit den Ansichten eines modernen, aufgeklärten Weltbürgers zu tun. Sie müssen nicht einmal direkt beleidigend sein. Die Vorurteile beginnen bei scheinbaren Komplimenten. So hat ein Südamerikaner den Rhythmus im Blut zu haben, weil er Südamerikaner ist. Und ein jüdischer Deutscher hat Bankier oder Rechtsanwalt, auf jeden Fall aber reich zu sein, weil er eben ein Jude ist.

Gemeinsame Schritte

Krass möchte diese Kette überlieferter Vorurteile durchbrechen. Dabei sollen die Kinder natürlich nicht gegen ihre eigenen Eltern aufgehetzt werden. Schuldzuweisungen haben bei dem Projekt nichts zu suchen. Der Krass-Klub lädt verschiedene ReferentInnen in die Schule ein. Wichtig ist deren Vielfalt. Da ist die Schülerin aus Kasachstan, der Rentner aus Griechenland, der Langzeitarbeitslose aus Italien oder die Chefingenieurin. Jede und jeder hat seine eigene Geschichte zu erzählen. Auch sie freuen sich, so viele junge Menschen kennen zu lernen, mit denen sie in ein und derselben Stadt schon so lange zusammenleben – meist aneinander vorbei. Auch sie fürchten sich davor, auf den anderen zuzugehen, den ersten Schritt zu machen. Diesen Schritt kann man auch gemeinsam schaffen. Die Referentinnen und Referenten dadurch, dass sie die Kinder in der Schule besuchen, die Kinder hingegen dadurch, dass sie ihre Gäste freundlich in Empfang nehmen. Jedes Kind darf sich den Referenten aussuchen, den es am interessantesten findet. So werden kleine Grüppchen gebildet. Sie erzählen, singen, kochen, tanzen, beantworten die unzähligen Fragen, die aufkommen, wenn man auf jemanden trifft, „der von sooo weit weg herkommt“.

Krass sieht sich auch als Vermittler zwischen fremden Nachbarn in Gemünden. Auf Moralpredigten zum Verständnis zwischen den Kulturen oder über den guten Ausländer wird verzichtet. So etwas hat sich schon längst als erfolglos erwiesen. Kindern muss man Mut machen, selbstständig zu denken. Das ist der beste Weg, um Ideen und Werte wirklich zu verinnerlichen. Sie brauchen niemanden, der sie immer auf dem richtigen Weg hält, sie möchten wissen, wie man diesen Weg selbst findet.

Die Gäste sind auf Augenhöhe mit den Kindern. Sie unterrichten nicht, sie unterhalten sich. Selbst sprachliche Barrieren sind nebensächlich. Denn „es gibt so viele Wege andere Menschen zu verstehen, auch ohne Worte“, sagt Rigas Bekas, ein 60-jähriger Rentner aus Griechenland. Er legt einen Sirtaki auf. Nach einem Moment der Verlegenheit wiegen sich SchülerInnen im Rhythmus der Musik von Mikis Theodorakis. Die ganz Mutigen wagen sich sogar an die ersten Schrittkombinationen. Nebenan erzählt die 17-jährige Schülerin Marina Weber von ihrer frühen Kindheit in Kasachstan, von ihrer Angst vor dem Umzug nach Deutschland, ihren ersten Eindrücken von der neuen, unbekannten Heimat. Die Kinder essen selbst gebackene Plätzchen. Sie erzählen von ihrer Angst vor dem Umzug in den Nachbarort.

Am Schluss halten die Kinder ihre verschiedenen Eindrücke mit bunten Farben auf Bildwänden fest. Zum Schluss sammeln sich die SchülerInnen einer Jahrgangsstufe, berichten sich gegenseitig von ihrem Tag. Sie verabschieden sich mit der Erkenntnis: „Hätte nie gedacht dass es bei euch so schön ist. Wir kommen euch mal besuchen!“ GW