Rollenspiel vor Gericht: Aufklärungstheater aufgemischt
Eine Flüchtlings-Aktivistin steht wegen Widerstands gegen Polizisten vor Gericht. Sie hatte am Flughafen eine Stewardess von „No Deportation Airlines“ gespielt.
HAMBURG taz | Mit Dublin II hat Ruth Rot* ein Problem. Und so protestierte sie – wie weitere 700 AktivistInnen auf fünf deutschen Flughäfen – am 30. März 2012 in Fuhlsbüttel gegen die Abschottung Europas und das Zurückschicken von Flüchtlingen in die EU-Aufnahmeländer. Im Rahmen einer angemeldeten Demonstration führten mehrere vermeintliche FlugbegleiterInnen im Terminal ein Theaterstück auf – und wurden von der Polizei gewaltsam attackiert. Vor Gericht steht am morgigen Freitag nun aber Ruth Rot – wegen Widerstands gegen Polizeibeamte.
Eine Crew der „No Deportation Airlines“ hatte damals Reisende darüber beraten, wie sie gegen eine Abschiebung in ihrem Linienflieger aktiv werden können. Was sie da zu hören bekamen, verblüffte viele der Fluggäste sichtlich: „Falls Sie als Passagier merken, dass in ihrer Maschine ein Mensch abgeschoben werde soll, protestieren Sie beim Boden- und Flugpersonal und der Flugleitung“, riet etwa eine der angeblichen Stewardessen. „Wenn die Maschine noch nicht gestartet ist, stehen Sie auf und verhindern Sie den Start – und damit die Abschiebung.“
Eine „No Deportation“-Kollegin ergänzte: „Alleine das Kundtun von Bedenken gegen Abschiebungen beim Flugzeug-Kapitän hat schon viele Abschiebungen stoppen können.“
Auch auf Drängen Deutschlands hat die Europäische Union (EU) ein Abschottungssystem entwickelt, das Flüchtlinge daran hindern soll, ihr Ziel zu erreichen.
Dublin II - beschlossen im Jahr 2003 in der irischen Hauptstadt - regelt, dass nur das EU-Land für ein Asylverfahren zuständig ist, welches der Flüchtling zuerst betreten hat. Damit soll verhindert werden, dass Flüchtlinge in mehreren Staaten Asyl beantragen. Aufnahmeländer wie Italien oder Malta sind jedoch wegen ausgelaufener EU-Mittel nicht in der Lage, die Versorgung der Flüchtlinge sicherzustellen.
Frontex ist die Grenzschutzagentur, die zu Land und Wasser die EU-Außengrenzen abriegeln soll. Sie fängt etwa im Mittelmeer Boote ab und schickt sie zurück - oder lässt sie auch mal in Seenot im Stich.
„Pilotinnen und Piloten und Flugbegleiter können sich weigern, an der Abschiebung mitzuwirken“, sagte ein anderer Aktivist an das echte Flugpersonal gerichtet: „Lassen Sie sich nicht von etwaigen mitfliegenden BeamtInnen einschüchtern“, appellierte er. Diese hätten im geschlossenen Flugzeug kein Recht auf Gewaltausübung – „dieses hat nur die Flugleitung“.
Die Theateraufführung in Hamburg wie auch Aktionen in München, Berlin, Düsseldorf und Frankfurt sollten aufmerksam machen auf die tausendfachen zwangsweisen „Rückführungen“ von Flüchtlingen, meist nach Südeuropa: in die Staaten, über die diese Menschen auf EU-Territorium gelangt waren.
Bis heute beruft sich etwa der Hamburger Senat auf das dahinter stehende Dublin-II-Abkommen, wenn er beispielsweise den so genannten Lampedusa-Flüchtlingen ein Bleiberecht verweigert: Demnach ist Italien für die rund 300 Männer zuständig, weil sie dort in die EU gelangt sind.
Ruth Rot muss sich nun wegen Widerstands gegen Polizeibeamte verantworten. Obwohl es sich bei der Aufklärungs-Performance um Kunst gehandelt hat, gingen Polizisten die „No Deportation“-Crew an. „’Die da mit dem Megaphon‘ haben sie gerufen und mich zu Boden gerissen“, erzählt Rot der taz. Danach sprayten beteiligte Polizisten in der Ladenzeile im Stockwerk darunter derart mit Pfefferspray um sich, dass sogar Verkäuferinnen panisch Geschäfte verließen.
Vom Tisch ist inzwischen der ursprüngliche, gegen Rot erhobene Vorwurf: „Leitung einer unangemeldeten Demonstration“. Rots Anwältin Daniela Hödl nennt das Vorgehen der Anklage „typisch für solche Verfahren“: Der eigentliche Hintergrund spiele „keine Rolle mehr. Was bleibt, ist der Widerstand, weil jemand nicht weggelaufen ist, sondern für seine Auffassung einsteht.“
*Name geändert
Prozess: Freitag, 9.30 Uhr, Amtsgericht Altona, Saal 101
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut