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Kolumne NüchternEntweder abstinent oder tot

Daniel Schreiber
Kolumne
von Daniel Schreiber

Gerade zum neuen Jahr gilt: Wer wirklich herausfinden will, ob er oder sie Alkoholiker ist, sollte versuchen, kontrolliert zu trinken.

„Abhängigkeit wird erst in ihrer Endphase zu einer Krankheit“. Bild: dpa

I n dem Moment, in dem Sie diese Kolumne lesen, werden überall auf der Welt die ersten guten Neujahrsvorsätze gebrochen. Das ist ganz normal. Zumindest, wenn diese Vorsätze das Trinken betreffen, liegt das Problem meistens schon im Ansatz begraben. Ungefähr vier Fünftel der Bevölkerung können trinken und müssen ihren Alkoholkonsum nicht kontrollieren. Sie kommen gar nicht auf die Idee oder machen es ganz einfach automatisch.

Die anderen werden über kurz oder lang abhängig, wenn sie Alkohol trinken, und die willentlichen Versuche, in ihrem Konsum zu pausieren oder ihn zu regulieren, führen mittel- und langfristig zu rein gar nichts. Es ist sogar so, dass Trinkpausen heute in den meisten Sucht- und Burn-out-Kliniken als Indikator für eine Abhängigkeitsdiagnose gelten. Und wer wirklich herausfinden will, ob er oder sie Alkoholiker ist, sollte versuchen, kontrolliert zu trinken. Bei mir hat dieser Test prima funktioniert.

Dass so viele Menschen immer noch denken, dass sie gegen Abhängigkeit immun sind, liegt unter anderem daran, dass man sie so schwer erkennt. Die längste Zeit trinken Alkoholkranke asymptomatisch, ihr Verhalten folgt keinem klar als pathologisch codierten Muster. Viele von ihnen glauben zudem, dass sie gar nicht abhängig werden können. Sie denken etwa, nicht der Alkohol mache krank, sondern eine schon vor dem Trinken existierende Persönlichkeitsstörung.

Daniel Schreiber

Daniel Schreiber lebt in Berlin. Er ist Autor der Biografie "Susan Sontag. Geist und Glamour".

Es hat lange gebraucht, bis diese recht weit verbreitete Ansicht wissenschaftlich als das Vorurteil entlarvt wurde, das sie ist. Erst einige Langzeitstudien lieferten dafür eindrückliche Nachweise. 1938 etwa begann an der Harvard University eine der größten soziologischen Untersuchungen der Menschheit.

Die Harvard Grant Study

268 junge College-Studenten, die privilegiertesten Männer ihrer Generation, wurden dafür regelmäßig nach ihrer Gesundheit, ihren Beziehungen, ihren Arbeitsverhältnissen und ihrem allgemeinen Zufriedenheitsempfinden befragt. Das ursprüngliche Ziel der Harvard Grant Study war es, die Bedingungen zu erforschen, unter denen ein Leben am besten gelingen kann.

Doch wie George Vaillant, der heutige Direktor der Studie in seinem Buch „Triumphs of Experience“ beschreibt, hatte keiner der Soziologen damit gerechnet, wie extrem die Auswirkungen schweren Trinkens sind. Das Trinkverhalten der Teilnehmer wurde zu einem Hauptfokus der Studie.

Starker Alkoholkonsum war unter fast allen Befragten der aussagekräftigste Indikator für Angstzustände, Depressionen, Soziophobie, zerbrochene Beziehungen und Einsamkeit im Alter – egal wie positiv die psychologischen Voraussetzungen waren, mit denen sie als Jugendliche einst in die Studie gestartet waren.

Probleme mit Intimität, emotionaler Konnektivität, Aggressionen und Bedürfnisaufschub wurden unter fast allen Teilnehmern die Regel, sobald sie Alkohol missbrauchten. Auch wenn viele von ihnen lange nicht als alkoholkrank zu diagnostizieren waren. 58 Prozent von ihnen verlor erst nach dem 45. Lebensjahr die Kontrolle über ihr Trinken.

Ein Drittel der Studienteilnehmer leben noch

Von den 268 Männern der Harvard Grant Study sind heute noch ungefähr ein Drittel am Leben, sie sind um die 90 Jahre alt. Kaum einer von ihnen hat regelmäßig getrunken. Die Männer, die schwer tranken und sich nicht für ein nüchternes Leben entschieden, starben im Durchschnitt 17 Jahre vor ihren einstigen Studienkollegen.

Die ehemaligen Trinker, die nüchtern waren, aber meistens viel rauchten, lebten noch ein paar Jahre länger. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der sonst so asymptomatische Alkoholismus des Harvard-Jahrgangs von 1938 zu einem klar erkennbaren Phänomen. Denn Abhängigkeit wird erst in ihrer Endphase zu einer Krankheit, die zwei unmissverständliche Erscheinungsformen hat: Entweder man wird abstinent oder man stirbt.

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Daniel Schreiber
Schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und das Radio über Literatur und Kunst. Sein Buch "Susan Sontag. Geist und Glamour", die erste umfassende Biografie über die amerikanische Intellektuelle, ist im Aufbau-Verlag und in amerikanischer Übersetzung bei Northwestern University Press erschienen. Im Herbst 2014 kommt sein neues Buch "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück" bei Hanser Berlin heraus. Darin erzählt er seine persönliche Geschichte und macht sich über die deutsche Einstellung zum Trinken und Nicht-Trinken Gedanken. Schreiber lebt in Berlin. ( http://daniel-schreiber.org )
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8 Kommentare

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  • F
    Frage

    "Bei mir hat dieser Test prima funktioniert."

    Und wie war das Ergebnis?

  • L
    Lionel

    Seltsam - andere Wissenschaftler haben festgestellt, dass Abstinenzler ein doppelt so hohes Sterberisiko haben. Bezogen auf Alter und Geschlecht, im Vergleich zu moderaten Alkoholkonsumenten, hatten Abstinenzler ein mehr als doppelt erhöhtes Mortalitätsrisiko, schwere Trinker hatten ein 70% erhöhtes Risiko und Gelegenheitstrinker hatten 23% erhöhtes Risiko.

     

    (Wiley Online Library - Late-Life Alcohol Consumption and 20-Year Mortality)

    • @Lionel:

      Das wundert mich nicht, denn auch andere Getränke wie z.B. Fruchtsäfte sind nicht unbedingt gesund. Das Sterberisiko ist ein Aspekt, aber ist ein Leben vor dem Tod im permanenten Vollrausch wirklich ein Leben?

      • L
        Lionel
        @Rainer B.:

        @Rainer B. - Es geht hier ja nicht um "Vollrausch", sondern um moderaten Alkoholkonsum. Mir ist inzwischen allerdings auch klar geworden, dass es bestimmten Kreisen um den Alkoholkonsum generell geht, und nicht um Vollrauschtrinker!

        • @Lionel:

          Nee, es geht eben nicht um "moderaten Alkoholkonsum", sondern um das Krankheitsbild "Alkoholismus", bei dem der Alkohol das gesamte Leben bestimmt und nicht der Konsument den Alkoholkonsum.

  • Bei unkontrolliertem Trinken

    kommt hier doch die

    DLRG

    Rainer

     

    Männer über 4x sind doch auf einmal Sinnlos ?, und dann werden sie abhängig von "XXXX???".

    (Suchtkranke-Rentner)

     

    ein restalkohol

    konnte heute Morgen Bürotauglich bei 0,2 liegen

    Jan

    p.s.: es gibt suchtkranke von hier bis da punkt

    Du bisst sonnst am dissen

  • H
    Hannes

    Das Problem ist, dass selbst Leute mit schon hochproblematischem Trinkverhalten die konsumierten Mengen noch für "normal" halten, weil sie nur Leute sehen, die ständig trinken und all die anderen nur als bedeutungslosen Hintergrund. Dabei trinkt die Mehrheit der Bevölkerung nie oder fast nie Alkohol (wirklich), die Statistik kommt auf recht hohe Durchschnittswerte nur aufgrund eines kleinen Teils, der sehr viel trinkt. Den Deutschen, der tatsächlich die durchschnittlichen knapp 10 Liter Alkohol im Jahr trinkt, gibt es fast gar nicht, jedenfalls nicht auf Dauer. Die allermeisten trinken sehr viel weniger bzw. fast gar nichts und einige wenige viel mehr, dazwischen gibt es fast nichts. Wer mehr als "fast nie" Alkohol trinkt, hat eine sehr große Chance, früher oder später am Alkohol zu krepieren.

     

    Andererseits: Ob das (wie alle Süchte, die nicht durch Kriminalisierung künstlich verschlimmert werden) nicht voll im eigenen Verantwortungsbereich liegt und vielleicht so dramatisch gar nicht ist, darüber kann man sich trefflich streiten. Man sollte da nur ehrlich mit sich sein und sich nicht etwas schönreden, was einem vielleicht schon lange mehr Leiden als Spass einbringt. Ein schwerer Kopf am Morgen kann einem den Tag mühelos versauen und versaute Tage versauen einem auf Dauer das Leben. Jede Droge schiebt einem auf Dauer das genaue Gegenteil von dem unter, weswegen man sie eigentlich nimmt und die Depression des Alkis steht im krassen Gegensatz zum Spaß beim Saufen.

  • "Wer wirklich herausfinden will, ob er oder sie Alkoholiker ist, sollte versuchen, kontrolliert zu trinken."

     

    Kein guter Rat, weil missverständlich. Ein Alkoholiker kann eben nicht kontrolliert trinken. Der Kontrollverlust gilt ja gerade als sicheres Zeichen einer Alkoholabhängigkeit. Ständige Selbsttests führen da nicht weiter. Wer schon einmal einen Filmriß hatte, sollte dringend einen Arzt aufsuchen und mit seiner Unterstützung den endgültigen Abschied vom Alkohol einleiten. Je früher, desto besser und desto einfacher.