Widerstand in Tunesien: „Unsere Traditionen engen ein“
Ghzela Mhamdi kämpfte mit den Frauen der Bergarbeiter und organisierte Proteste. Eine eigenwillige Linke.
sonntaz: Frau Mhamdi, wie würden Sie sich beschreiben?
Ghzela Mhamdi: Ich bin wie das Tunesien meiner Region: eine Mischung aus der Härte der Landarbeit und der Berge und dem einfachen Leben einer städtischen Frau. Ich bin Feministin und Linke.
Wer war das Vorbild Ihrer Emanzipation?
Meine Eltern hatten mir gesagt „Leg los!“, vor allem meine Mutter. Sie liebt Bildung, obwohl meine Eltern einfache Bauern sind. Es war meine Mutter, die mich gefördert hat. Sie träumte immer davon, dass ihre Tochter es schaffen werde. Und ich versuche immer, mehr zu tun für das Glück meiner Mutter. In meiner Familie waren wir ein Mädchen und vier Jungen. Es gibt eine Gleichheit, keinen Unterschied. Meine Eltern behandelten mich wie meine Brüder. Und selbst wenn mein Vater mich schlug, schlug er mich wie die Jungen.
Sie wurden also gleich erzogen wie Ihre Brüder?
Ja. Und ich sehe keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Auch nicht körperlich. Ich habe zu Hause die gleiche Arbeit wie meine Brüder geleistet. Und ich habe immer gewusst, dass ich die Stärkere bin. Manchmal gibt es Probleme, meine Mutter kann sich widersetzen, mein Vater ist dann schnell müde, nicht meine Mutter. Ich habe gesehen, dass es bei der Frau eine Kraft gibt, die der Mann nicht hat. Sie kann sich mehr wehren als ein Mann.
geb. 1978, ist politische Aktivistin. Sie ist in einer Bauernfamilie mit vier Brüdern aufgewachsen. Nach dem Abitur hat sie am Institut Supérieur des Etudes Technologiques in Gafsa studiert. Sie ist Mitbegründerin der Vereinigung arbeitsloser Hochschulabsolventen und von Amnesty in der Phosphatregion. Nach zweijähriger Berufstätigkeit (2006-2008) in einer staatlichen Organisation wurde sie 2008 wegen ihres Engagements entlassen. Sie ist Mitorganisatorin der Erhebung von 2008 im Phosphatbecken und Aktivistin der Aufstände Ende 2010. Gemeinsam mit ihrer Mutter fordert sie in einem zehntägigen Hungerstreik ihr Recht auf Arbeit. Seit 2011 arbeitet sie in der Finanzverwaltung in Gafsa.
War Ihre Familie politisch?
Nein. Niemand war engagiert oder gewerkschaftlich organisiert. Als ich gerade mein Abitur machte, verlor ich bei einem Unfall meinen 23-jährigen Bruder. Er wurde vom Blitz erschlagen. Das hat mein Leben stark beeinflusst. Ich fragte mich, warum ist das Leben auf dem Land so schwierig, so viel schwieriger als in der Stadt.
Seit wann engagieren Sie sich politisch?
Im Jahr 2000 habe ich mich an der Universität eingeschrieben und sofort in der Studentengewerkschaft UGET engagiert.
Was bedeutet für Sie Freiheit?
Freiheit liegt nicht in den Worten, sondern im Handeln. Unsere Traditionen und die Religion engen die Freiheit ein, vor allem die der Frauen. Ich will aber ich selbst sein. Ich kenne kein Thema, worüber Männer und Frauen nicht gemeinsam miteinander reden könnten.
Wie sieht die Emanzipation in Ihrem Alltag aus?
In meinem persönlichen Leben fühle ich mich respektiert, wie ich bin. Ich trage keine Maske. Ich habe meine eigene Wohnung in Gafsa. Ich lebe allein. Meine Familie besucht mich, meine Freundinnen und Freunde auch, man redet miteinander, man isst gemeinsam. Ich lebe frei wie ein Mann. Setze mich auch zu den Männern ins Café. Niemand stört sich daran. Meine jetzigen Freundinnen sagen zu mir: „Du bist keine Frau, du bist ein Junge.“ In den Augen der anderen bin ich wie ein Mann. Wenn in meiner Familie eine Entscheidung getroffen werden soll, sagt mein Vater, man muss zuerst Ghzela fragen, was sie dazu zu sagen hat. Meine Meinung zählt. Ich sorge auch finanziell für meine Eltern und meine Brüder, die jünger sind als ich.
Eine große Verantwortung.
Ja, es gibt Unglück und Glück. Wenn meine Mutter stolz auf mich ist, ist alles tragbar. Schließlich zählen nur die Liebe und der Tod. Ich möchte davor aber so leben, wie ich will.
Sind Sie optimistisch, was Tunesien angeht?
Nein. Ja. Tunesien ist immer grün. Es gib nicht nur Schwarz. Es ist schwierig, aber nicht hoffnungslos.
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