Kritische Reaktionen auf die Kunst: Dada heißt Bellen

Einst sorgte der Künstler Kurt Schwitters für viel Aufsehen. Wie der Dadaist mit Kritik umging, zeigen ein neues Buch und eine Ausstellung in Hannover.

Direktor Reinhard Spieler betrachtet im Sprengel Museum eine der Kladden von Kurt Schwitters. Bild: DPA

HAMBURG taz | „Meine Anna Blume feierte Triumphe, man verachtete mich, schrieb mir Drohbriefe und ging mir aus dem Wege“, erinnerte sich Kurt Schwitters 1929, mit zehn Jahren Abstand, an seine turbulente Anfangszeit als Merzkünstler. Das Presseecho, das der Collagekünstler und Dichter in den revolutionären Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erfahren hatte, war enorm gewesen: Unzählige, zumeist diffamierende Besprechungen seiner Ausstellungen und Gedichte erschienen in den Zeitungen.

Um den Überblick zu bewahren, musste Schwitters zeitweise einen täglichen Ausschnittdienst abonnieren. Aber auch die Reaktionen des Publikums waren zum Teil heftig: So ramponierten aufgebrachte Besucher einer Ausstellung im Hildesheimer Roemer-Museum Schwitters’ da zu sehende Arbeiten.

Wie intensiv sich Kurt Schwitters mit den Reaktionen des Publikums und der Presse beschäftigte und sie in seiner Kunst verarbeitete, verdeutlicht eine jetzt erscheinende Publikation: In dreijähriger Forschungsarbeit entstanden, bereitet der Band auf 1.075 Seiten fünf Kladden aus den Jahren 1919 bis 1923 auf, in denen Schwitters seine Kritiken gesammelt hat.

Umfassende Erschließung

Die Alben befinden sich als Leihgabe der Kurt und Ernst Schwitters Stiftung im Kurt Schwitters Archiv am Sprengel Museum Hannover. Die Kuratorin Isabel Schulz leitete zusammen mit Ursula Kocher, Literaturwissenschaftlerin aus Wuppertal, die editorischen Arbeiten bis zur umfassenden wissenschaftlichen Erschließung. So konnten mit Mitteln des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur Julia Nantke und Antje Wulff an der Bergischen Universität die Hefte vollständig transkribieren, aufarbeiten und kommentieren.

Auftakt zur Gesamtausgabe

Die Edition stellt den Auftakt dar zu einer geplanten Gesamtausgabe von Schwitters’ schriftlichem Nachlass, die auch digital zugänglich gemacht werden soll. Anlässlich der Publikation zeigt das Sprengel Museum derzeit die fünf Original-Kladden sowie weitere Exponate aus der frühen Merz-Zeit des Künstlers. Unter diesen selbst kreierten Begriff, Merz, stellte Schwitters ab 1919 die Gesamtheit seines Schaffens.

Ergänzend gibt es in der Ausstellung eine vollständige digitale Projektion der Heftseiten. Mit den bereitliegenden Kladdenseiten kann der interessierte Besucher sich zudem mit jeder einzelnen vertiefend befassen – und darüber staunen, was Kurt Schwitters da alles an Material zusammengetragen hat: Nahezu sechshundert Zeitungsausschnitte – zumeist die Kritiken seiner Ausstellungen –, Korrespondenzen, Leserbriefe, Werbeblätter und Postkarten sind es, die sich in den Kladden befinden.

Dabei dominieren Texte, Illustrationen tauchen auf den Heftseiten nur vereinzelt auf. Zu einem künstlerischen Prozess wurde bei Schwitters aber schon das Sammeln, Anordnen und Kleben der Artikel: Durch die Art und Weise wie er das Material auf den Seiten arrangierte, entsteht der Eindruck eines Werks. „Das ist ja auch das Spannende an Kurt Schwitters, dass er permanent versucht hat, eine klare Trennlinie aufzulösen und zu überschreiten“, sagt Isabel Schulz. „Die zwischen Wort und Bild, zwischen Text und bildnerischen Arbeiten, aber auch zwischen Sprache und Klang, Musik und Architektur. Er war wirklich ein großer Grenzüberschreiter und Beziehungsschaffender zwischen all diesen Dingen.“

Vielen seiner zeitgenössischen Kritiker war Schwitters’ erweiterter Kunstbegriff zu neu, zu radikal. Sie wurden nicht müde, ihm Geisteskrankheit zu unterstellen und ihm einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nahezulegen.

Kladden für die „Abfälle“

Was Schwitters von den Stereotypen und Klischees hielt, mit dem die Artikel seine Kunst und ihn diffamierten, drückte er im Untertitel einer Kladde aus: „Spezialhaus für Abfälle“. Wie zahlreiche andere Dadaisten benutzte er Sätze und Textpassagen aus den Rezensionen seinerseits für polemische Kritikerschelten. „Die Dadaisten gehörten zu den ersten Künstlern, die die massenmediale Bedeutung der Zeitung erkannten und für sich zu Nutze gemacht haben“, erklärt Schulz.

„Wirkung auf die Medien“

„Sie verfolgten ganz bestimmte Marketingstrategien und maßen den Erfolg ihrer Aktivitäten an der Wirkung auf die Medien.“ So bewarb Schwitters seine Gedichtbände mit Aufklebern in der Stadt oder lancierte bewusst Falschmeldungen in den Zeitungen, wie kurz vor der Wahl 1920 den Slogan „Wählt Anna Blume“ in der Hannoverschen Tageszeitung.

Ein ständiges Wechselspiel aus Provokation und Reaktion verfolgte Schwitters auch in seinen Auftritten, 1923 während seines „Dada-Feldzugs“ durch Holland etwa: „Ich stand inmitten des Publikums auf und bellte laut. Einige Leute fielen in Ohnmacht und wurden hinausgetragen, und die Zeitungen berichteten, Dada bedeute Bellen“, schreibt er. „Wir bekamen sofort Engagements für Haarlem und Amsterdam. Es war ausverkauft in Haarlem, und ich ging durch den Saal, so dass mich alle sehen konnten, und alle erwarteten, dass ich bellen würde. Diesmal schnaubte ich meine Nase.“

„Alles Mögliche, was uns interessiert. Die Textsammlungen von Kurt Schwitters“: bis 25. Mai, Sprengel Museum, Hannover. Die Edition „Kurt Schwitters: Die Sammelkladden 1919–1923“, herausgegeben von Ursula Kocher und Isabel Schulz, erscheint für 149,95 Euro bei De Gruyter.
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