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Eine linke Karriere

taz Serie „1980, 1990 – besetzte Zeiten“ (Teil 5): In den 80er-Jahren startete Rainer Klee als Taxikollektivist in einem besetzten Haus. Daraus entwickelte sich eher beiläufig die Titanic-Reisebüro-Kette und der heute größte Flugtickethändler Europas

VON CHRISTOPH VILLINGER

„Ich möchte nichts missen!“ Stolz schwingt in der Stimme von Rainer Klee, wenn er von den Ursprüngen seiner Firma erzählt. Heute ist der 47-jährige gelernte Speditionskaufmann Vorstandsvorsitzender der Aerticket AG, Europas größtem Flugticket-Großhändler. Insgesamt 300 Menschen arbeiten dort, allein 180 in der Zentrale in der Kreuzberg Zossener Straße. Etwa eine Million Tickets liefern sie pro Jahr an rund 6.000 Reisebüros.

Angefangen hatte alles Mitte der 80er-Jahre. Rainer Klee war gerade aus einem besetzten Haus in Charlottenburg ins Kerngehäuse an der Kreuzberger Cuvrystraße gezogen. „Zusammen wohnen und arbeiten“ war in dem schon legalisierten Hausprojekt angesagt, oben gab es große Wohngemeinschaften, unten die Autowerkstatt für fünf Taxikollektive. Klee arbeitete bei den „Schwarz-Roten Reifen“. Die Farben standen für den in einer anarchosyndikalistischen Tradition stehenden Flügel der Hausbesetzer, aber auch für die damaligen Befreiungsbewegungen in Nicaragua und El Salvador.

„Selber machen“ meinte damals nicht nur das Instandsetzen von Häusern oder das Reparieren der Taxis. Auch mit Kaffeeimporten aus Nicaragua wurden die Strukturen des Weltmarkts umschifft. Einige Taxigenossen gründeten die Berliner Kaffeegenossenschaft, die Marke „Sandino Dröhung“ war schnell etabliert und Rainer Klee als Geschäftsführer der Importfirma mehrmals in Nicaragua.

Dorthin zog es hunderte Menschen aus der Lateinamerika-Solidaritätsszene. Allein durch ihre Anwesenheit vor Ort bildeten sie bei der Kaffeeernte einen menschlichen Schutz vor den von den USA finanzierten Konterrevolutionären. Auch die Flugtickets für die europäischen Freunde der Sandinisten wurden selbst organisiert. Das Lateinamerika-Zentrum in der Crellestraße vermittelte in diesen Jahren über 1.000 Flugscheine.

Neben der politischen Arbeit stellten sich persönliche Fragen. „Will man seinen Lebensunterhalt perspektivisch weiter mit Taxifahren verdienen?“, überlegte sich nicht nur Rainer Klee. Manche stießen an ihre gesundheitlichen Grenzen. „Wir orientierten uns in Richtung Reisebüro“, erinnert sich Klee. Das war damals eine Marktlücke im Wrangelkiez. Zu sechst gründete man 1988 das „Titanic-Reisebüro“ in der Oppelner Straße. Arbeit und Politik blieben verknüpft. Das Büro diente etwa als Info-Laden für die Kampagne gegen die Berliner Tagung des Internationalen Währungsfonds im Herbst des gleichen Jahres.

Allein von dem Laden konnte in den ersten beiden Jahren jedoch niemand leben. „Wir arbeiteten alle noch nebenher, ich zum Beispiel machte Nachtdienste im Krankenhaus“, erzählt Gründungsmitglied Ilona Paschke. „Dafür war das Reisegeschäft noch sehr ruhig. Es gab die drei alliierten Fluggesellschaften ab Tegel und die Interflug ab Schönefeld“, sagt die heute 41-Jährige Geschäftsführerin. In der Aufbauzeit arbeiteten alle gut „60 bis 70 Stunden die Woche“. Für Klee ging dies nicht mehr mit seiner großen WG zusammen. Er zog aus.

Der Mauerfall brachte dem Titanic-Reisebüro den ersten Großkunden, den Deutschen Rundfunk der DDR. Und fast folgerichtig aus der umfangreichen Solidaritätsarbeit gewann man eine Ausschreibung des Deutschen Entwicklungsdienst (DED), der laut Paschke „größten Organisation, die Menschen in die Dritte Welt schickt“. Mit der Übernahme weiterer Reisebüros endete 1991 die „Aufbau- und Kollektivphase“. Dann bekam die erste Frau ein Kind. Andere wollten „etwas vorantreiben“ und damit „auch ein höheres Maß an Verantwortung tragen“, erinnert sich Paschek. Das brachte auch Enttäuschungen mit sich. Schon zuvor war ein Kollektiv mit 10 bis 15 Leuten schwierig genug, nun war es bei vielen nicht mehr angesagt. Die Beziehung, die Kinder, monatelanger Urlaub und anderes hatte Vorrang. „Es gelang uns nicht mehr, jemanden vom Kollektiveintritt zu überzeugen“, sagt Klee. Titanic wurde ein normales Unternehmen im gemeinschaftlichen Besitz der Betreiber, zwar noch bis 1996 mit Einheitslohn, aber mit Angestellten.

Konflikte und Streit gab es eher, als man merkte, dass ein Reisebüro „eine noch blödere Dienstleistung als Taxifahren sein kann“. Kunden meckern rum. „Ökotourismus in die Toskana verkaufte sich überhaupt nicht, zu viele wollten einfach nur billig nach Mallorca, egal wie. Wieder andere schimpften wegen Flugreisen in die Dominikanische Republik. „Wegen des dortigen Sextourismus“, sinniert Paschke über die damaligen Auseinandersetzungen.

Doch man expandierte weiter, ein Reisebüro am Ku’damm brachte sich ein, die Menschen aus den Reisebüros von Artu am Heinrichplatz und in der Zossener Straße wurden Mitgesellschafter. Leute aus einem anderen Taxikollektiv stiegen ins Geschäft mit Bahntickets ein. Daraus entstand das vor allem auf Eisenbahnfahrten spezialisierte Reisebüro „Kopfbahnhof“ in der Yorckstraße. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich aus dem kleinen Reisebüro Titanic eine Kette mit heute 45 Angestellten und sieben Eigentümern. Als der DED nach Bonn umsiedelte, zog eine der zehn Filialen mit. „Gemessen daran, dass alle anderen aus dem studentischen oder alternativen Milieu kommenden Reisebüros inzwischen von großen Konzernen aufgekauft oder pleite sind, geht’s uns ganz gut“, kommentiert Klee.

Aber die Devise, „das können wir doch selber machen“, galt weiterhin. Eher beiläufig bot sich an, Flugtickets auch für andere Reisebüros auszustellen, bald waren allein damit drei Leute beschäftigt. Etwa 50 alternative Reisebüros und Mitfahrzentralen gründeten einen Verein, aus dem sich bald „eine Art Einkaufsgenossenschaft“ entwickelte. Spätestens „ab diesem Moment wurden wir von den Fluggesellschaften ernst genommen“, schaut Klee zurück. Heute hat der Verein 600 Mitglieder. Das Ausstellen der Tickets gliederte man in eine Tochtergesellschaft aus, die heutige Aerticket AG, deren Vorstandsvorsitzender Klee nun ist.

Zwar gebe es kollektive Entscheidungen im Vorstand, sagt Klee. „Aber wir sind kein Kollektiv mehr.“ Mitarbeiter würden inzwischen bei jedem gut geführten Unternehmen in die Entscheidungen miteinbezogen. „Unser Problem ist, in einer Firma zu arbeiten, hinter der man steht. Um die am Leben zu halten, kann man nicht immer das Beste für alle machen“, meint auch Petra Wybieralski. Mitte der 80er-Jahre war auch sie beim „schwarz-roten“ Taxikollektiv und Buchhalterin im Kerngehäuse. „Sich in alles Mögliche reinfummeln zu können“, das sei die größte Stärke des Betriebs, meint die gelernte Germanistin. Ohne je Betriebswirtschaft studiert zu haben, leitet die 51-Jährige die Personalverwaltung und ist Mitarbeitervertreterin. Als solche verteilt sie gerade die hereinkommenden Weihnachtsgeschenke der Fluggesellschaften.

Politisch greife man nur noch per Spenden ein, erzählt Klee. „So sind wir zum Beispiel der größte Einzelspender von Christian Ströbele“, dem Kreuzberger und Friedrichshainer Vertreter im Bundestag. Drei Stunden lang diskutierte vor kurzem die Betriebsversammlung mit ihm.

Als verpasste Jahre empfindet Rainer Klee die Zeiten im besetzten Kerngehäuse nicht. Vielmehr „bin ich ein wenig darüber frustriert, wie sie jetzt alle unterm Tannenbaum sitzen“. Früher sei er gerne an Heiligabend Taxi gefahren. Da widerspricht Paschke ihrem langjährigen Kompagnon vehement. „Unsere Weihnachtsfeiern im Betrieb sind für die Mitarbeiter Ausdruck des familiären Betriebsklimas und ganz wichtig“. Rainer Klee erlebt den Unterschied in der Firmenkultur an anderer Stelle: „Bei den großen Treffen mit den Vertretern der Fluggesellschaften werde ich immer ein wenig belächelt“, sagt Klee. „Aber ich bin weiter der Meinung, zusammen wohnen und kollektive Strukturen aufzubauen ist richtig. Mir fehlen dazu eher die Leute.“

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