Die Aufsteigerin

BILDUNG N’Fanteh Minteh lebt in der Banlieue von Paris. Sie will in die Nachrichten – aber als Journalistin

Warum gibt es kaum Journalisten aus den Vororten, aus Arbeiterfamilien, die nicht nur über Drogen und Krawalle berichten?

AUS PARIS JULIA AMBERGER

Ob sie mal zur Elite Frankreichs gehören wird, entscheidet sich in zwei Monaten; N’Fanteh Minteh will Journalistin werden. Ihre Mutter arbeitet als Putzfrau, ihr Vater sammelt Müll. Und sie lernt seit vier Monaten für die Aufnahmeprüfungen der École Supérieure de Journalisme in Lille, der renommiertesten Journalistenschule Frankreichs.

N’Fanteh Minteh, 22, hat in der Banlieue von Paris Französisch gelernt, ihre Eltern kommen aus Gambia. Nach dem Abitur studierte sie an der Universität in Créteil Wirtschaft, mit der Metro eine Dreiviertelstunde vom Pariser Zentrum entfernt. Doch aus ihrem Vorort heraus hätte sie es nie geschafft, „wenn mich nicht jemand rausgezogen hätte“, wie sie sagt. „Sonst würde ich jetzt an einer Supermarktkasse sitzen.“

Als im Herbst 2005 junge Leute aus den Banlieues rebellieren, ziehen die Bilder von brennenden Autos und Mülleimern über die Fernsehbildschirme. Alle Zeitungen, links wie rechts, berichten über Drogen und Randale in den Vorstädten. „Aber in Créteil war es ruhig“, sagt Minteh und zuckt mit den Schultern. Nach der Revolte wendet sich die Nation schnell wieder anderen Themen zu. Minteh ärgert sich über das Desinteresse und die Ignoranz der Journalisten, so, als wolle man die Vorstädte aus der kollektiven Identität Frankreichs ausblenden. „Ich will verstehen, wer entscheidet, worüber berichtet wird“, sagt sie.

In Frankreich werden die angehenden Journalisten an privaten oder staatlichen Journalistenschulen ausgebildet, ein Volontariat gibt es dort nicht. Eigentlich kann sich jeder für diese Schulen bewerben – jeder, der sich auf einen hochselektiven Wettbewerb einlässt. Für BewerberInnen mit Migrationshintergrund bietet die renommierte Schule in Lille sogar Vorbereitungsklasssen an: Jedes Jahr wählt eine Jury zwanzig KandidatInnen für einen sechsmonatigen Crashkurs in Allgemeinbildung aus. Warum kommen dennoch fast alle Journalisten aus dem gutbürgerlichen Milieu? Warum gibt es kaum Journalisten aus den Vororten, aus Arbeiterfamilien, die nicht nur über Drogen und Krawalle berichten?

Der Regen prasselt auf den Boulevard Brune, eine schmucklose Straße im Süden von Paris, unweit der Stadtautobahn, die das reiche Paris von den Vorstädten trennt. Hier, in einem ehemaligen Ladenlokal mit großen Schaufenstern, arbeitet John Paul Lepers, der Chefredakteur von Télé Libre, ein großer Mann mit Brille und feinen Gesichtszügen. Er hat die Beine auf seinem Tisch übereinandergeschlagen und rollt eine Zigarette. Er hört die Beatles und summt mit.

Die Webseite latelelibre.fr, Lepers nennt es auch „Piratenfernsehen im Internet“, hat er vor sechs Jahren gegründet, nachdem sich sein damaliger Arbeitgeber, der Fernsehsender Canal +, weigerte, seinen Dokumentarfilm über Bernadette Chirac zu senden – wegen mangelnden Respekts. „70 Prozent der Journalisten sind Kinder reicher Eltern“, sagt er und macht eine effektvolle Pause. „Ich bin nicht gegen die Elite. Aber schlechte Schüler und junge Leute aus der Banlieue sollten auch die Möglichkeit haben, Journalisten zu werden.“ Deshalb initiierte Lepers 2010 die Ausbildung zum „Reporter citoyen“, zum Bürgerreporter, mit der er junge Leute aus den Vororten für den Journalismus gewinnen will. Das Geld dafür kommt von den teilnehmenden Kommunen und vom Conseil Régional, dem Regionalrat.

Minteh und ihre KollegInnen werden in wöchentlichen Seminaren an einer Medienschule ausgebildet und machen Praktika bei Télé Libre. Außerdem reisten sie nach Israel, Palästina und Tunesien, wo sie etwa den Prozess gegen Ben Ali begleiteten und junge Frauen fragten, ob sie sich nach dem Arabischen Frühling eher auf die Straße trauen als vorher. Daraus entstand die Web-Dokumentation „Les printemps de la jeunesse“.

Inzwischen ist es finster an dem Boulevard Brune, der Techniker lässt die Jalousien herunter. John Paul Lepers, umringt von Minteh und sechs jungen Frauen und Männern, schenkt Wein nach. „Natürlich könnt ihr Streikende befragen und Arbeitgeberverbände“, sagt er und legt seine Hand auf die Schulter der jungen Frau neben ihm. „Aber das ist wie ein Essen ohne Geschmack.“ Objektiv könnten Journalisten sowieso nicht sein, so sein Credo, „aber ehrlich“. Es ist still, abgesehen vom Klappern der Tastatur: Minteh schreibt einen Kommentar zu Ende. „Sie ist wie eine Rose, die man gießen muss“, sagt Lepers über sie.

In seiner Wohnung in einem der schmucken Pariser Vororte, hängen Holzmasken aus Afrika. An diesem Freitagabend duftet es nach Reis und Hähnchenfleisch – Minteh hat gekocht. Seit einer Woche wohnt sie bei Lepers, seiner Frau und seinen beiden Kindern. Hier könne sie in Ruhe lernen, das Zimmer bei ihren Eltern teilt sie sich mit ihrer Schwester, sagt Lepers. Es habe aber lange gedauert, erzählt sie schließlich, bis sie ihrem Ausbildungsleiter vertraut habe. „Als du Moderationen von mir für Télé Libre aufgenommen hast“, sagt sie zu ihm, „da hatte ich Angst, als Mädchen aus der Banlieue vorgeführt zu werden.“ Bis heute kämpft sie mit ihrem Misstrauen gegen die gut situierten Leute.

Aber auch die Freundinnen aus Créteil werden sich fremd, ihre Lebenswelten driften immer weiter auseinander. Minteh schämt sich, wenn sie von einem Dreh im Parlament erzählt, während die eine ihre Stelle als Friseurin aufgegeben hat und die andere immer noch klagt, dass sie keinen Job findet. Doch ihre Freundinnen lassen sich nicht von ihr mitreißen, sagt Minteh. Stattdessen redeten sie sich raus, N’Fanteh sei schon immer anders gewesen.

Anders ist sie vielleicht, weil sie Chancen erkennt und zugreift, wenn sie in ihrer Reichweite liegen. Als sie in der Schule erfuhr, dass man ohne Ausbildung ab dem achtzehnten Lebensjahr als Verkäuferin arbeiten kann, bewarb sie sich bei McDonald’s und bekam den Nebenjob. Als Minteh eine Videokassette wiederfand, in der sie und ihre Freunde als Kinder von ihren Träumen erzählt haben, hat sie die inzwischen etwa 20-Jährigen zusammengerufen und über ihre heutigen Träume befragt. Ihr erster Film zeigt Aufnahmen in Schwarz-Weiß, von Kindern, die über eine Bühne tanzen und rufen, dass sie Sänger werden wollen oder Sportler. Und junge Erwachsene, die lachen, den Kopf schütteln und auf die Frage nach ihren Träumen nur mit den Schultern zucken.

„Und was haltet ihr von meinem Traum, Journalistin zu werden?“, fragt sie am Ende des Videos zwei ihrer Freunde. Messiane Dib, der einmal der Stärkste im Kiez werden wollte, lacht. „Eine schwarze Nachrichtensprecherin fehlt in Frankreich, und du hast das passende Gesicht“, sagt er. Der andere antwortet mit tiefer Stimme: „So Gott will, sollst du Journalistin werden.“