Slow Finance

FINANZMARKT Beim Hochfrequenzhandel sind 250.000 Transaktionen pro Sekunde möglich. Eine Entschleunigung würde die Realwirtschaft stärken

■ ist Politikberaterin des World Future Council in Hamburg (Vorstandvorsitzender: Jakob von Uexküll). Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei zwei Bundestagsabgeordneten der Linken und der NGO Weed.

Finanzinnovationen kommen schneller auf den Markt, als Regulierung und Aufsicht schauen können. Zugleich folgt auf jede regulatorische Veränderung eine Welle an Finanzinnovationen einzig mit dem Ziel, die Vorgabe zu umgehen. Regulierung und Aufsicht werden daher anachronistisch bleiben, solange es keinen Finanz-TÜV gibt, der Finanzinstrumente vor ihrer Zulassung prüft. Undurchsichtige Mehrfachverbriefungen etwa, die bislang nur an Auflagen wie höhere Eigenkapitalunterlegungen geknüpft sind, sollten vom Markt genommen werden.

Das aber wird nicht reichen: Finanzmärkte sind heute nicht nur schneller als die Politik, sondern auch schneller als die Realwirtschaft. Finanzinstrumente können rasanter und kurzfristig oft rentierlicher gehandelt werden, als Rohstoffe wachsen und Unternehmen produzieren. Dabei prägen die Finanzmärkte den Takt der Realwirtschaft. Selbst Private-Equity-Manager nennen sich zwar langfristig orientiert, meinen damit jedoch rund fünf Jahre. Das heißt, dass darüber hinausgehende, längerfristige Investitionen wie in Grundlagenforschung zur Behandlung von Alzheimer mit einem Horizont von 20 Jahren ausbleiben.

Die Spitze der Hyperaktivität ist der Hochfrequenzhandel. Hier wird computerbasiert über algorithmische Handelsstrategien in Sekundenbruchteilen gekauft und verkauft. Aktuell sind 250.000 Transaktionen pro Sekunde möglich. Hedgefonds arbeiten daran, die Zahl auf über 400.000 zu erhöhen. Mit Liquidität für die Realwirtschaft hat eine solche Turboschleuder nichts zu tun. Liquidität bedeutet, Vermögenswerte und Wertpapiere zeitnah kaufen und verkaufen zu können. Doch wer braucht dazu einen Zeittakt von Millisekunden oder auch Minuten? Die Eskalationslogik heißt, schneller zu sein als die Konkurrenz, um Handelsgewinne zu erzielen. Der renditegetriebene Zeitwettbewerb treibt die kollektive Beschleunigungsspirale kontinuierlich voran.

Dem Hamsterrad entkommen

Das Tempo der Finanzmärkte muss mit dem Tempo von Politik und Realwirtschaft in Einklang gebracht werden. Zunächst ist dazu ein Finanz-TÜV nötig, weil er das Zeitproblem proaktiv agierender Finanzakteure und stets verspätet reagierender Regulierung und Aufsicht behebt. Nur Finanzinstrumente, die auf einer Positivliste stehen, sollen zugelassen oder rechtssicher sein. Ihr gesamtwirtschaftliches Risiko-Nutzen-Profil muss positiv ausfallen. Die Beweislast, ob eine Finanzinnovation die Ansprüche für die Positivliste erfüllt, würde der Finanzwirtschaft – den Erfindern – obliegen. Nicht nur Banken, sondern auch Finanzinstrumente sind systemrelevant. Ein vorbeugender Finanz-TÜV würde Regulierung insgesamt vereinfachen und eine wirksame Marktaufsicht ermöglichen. Eine frühe Form des bedachten Umgangs mit Finanzinnovationen war der Wetteinwand: eine Regelung in Deutschland, die Finanzgeschäften mit explizit spekulativem Anteil die Rechtssicherheit verwehrte. Der Wetteinwand fiel vor zehn Jahren der Deregulierung zum Opfer.

Nach einer jahrelangen Kampagne von Organisationen wie Attac hat der EU-Finanzministerrat im Januar zudem den Weg für eine Finanztransaktionssteuer frei gemacht. Der Charme der Steuer ist, dass sie mit einem geringen Steuersatz von beispielsweise 0,1 Prozent nur bei häufigem Handel ins Gewicht fällt, ohne realwirtschaftlich sinnvolle Geschäfte zu belasten. Der Steuersatz muss zugleich ausreichend und – ähnlich dem Leitzinssatz der Zentralbank – im Bedarfsfall anpassbar sein, um eine entschleunigende Lenkungswirkung zu erzielen. Auch der Hochfrequenzhandel wird sich durch die Steuer verlangsamen.

Mindesthaltedauer ist nötig

Eine direkte Zeitbremse wäre zudem eine Mindesthaltedauer für Wertpapiere und Angebote. Das EU-Parlament schlägt eine halbe Sekunde Handlungsstillstand vor – eine äußerst bescheidene Frist. Die Bundesregierung verzichtet in ihrem Gesetzentwurf leider gänzlich auf eine solche Maßnahme. Eine Mindesthaltedauer kann, ist sie lang genug, den Hochfrequenzhandel praktisch abschalten. Je nach Art des Wertpapiers kann das Tempolimit unterschiedlich sein. Das ist weit effektiver als umständliche Detailregelungen oder nachträgliche Interventionen.

So wie „Slow Food“ genussvoll bewusstes Essen bedeutet, sollte „Slow Finance“ für nachhaltig produktive Investitionen stehen. Ein Finanz-TÜV, eine ausreichend hohe Finanztransaktionsteuer und Mindesthaltedauern sind hierfür zentrale Instrumente. Auch Wirtschaftsdemokratie ist entscheidend – dadurch könnten Beschäftigte etwa gegen den Verkauf von Unternehmensteilen im alleinigen Interesse von Finanzinvestoren votieren.

Die Finanzmärkte prägen den Takt der Wirtschaft. Investitionen in Grundlagenforschung, etwa zu Alzheimer, unterbleiben

Vorbild Indien

Doch nicht nur der Zeitaspekt treibt Finanzblasen an. Hinzu kommt die Liquiditätsillusion, indem Vermögenswerte und Wertpapiere exzessiv kreditfinanziert ohne entsprechend realen Gegenwert gehandelt werden. Indien hat derlei fiktive Liquidität wirksam durch seine Mindestreservepolitik für Banken ausgebremst. Damit ist es sowohl gut durch die Asienkrise als auch durch die Immobilienkrise gekommen. Das vom Regierungskabinett im Februar beschlossene Trennbankenmodell soll zwar ausgeprägten Eigenhandel vom Kundengeschäft abschirmen und somit Einlagen sichern. Eine wirksame Kredithebelbremse ist dies jedoch noch nicht. Scheinliquidität entsteht auch dort, wo Sicherheiten mehrfach über lange Ketten wiederverwendet werden. Ein Beispiel ist die Wertpapierleihe für Leerverkäufe: Wertpapiere werden verkauft, ohne der verkaufenden Person oder Institution zu gehören; als Sicherheit dient die Leihgabe. Leerverkäufe beschleunigen den Preisverfall. Sie sollten daher nicht zugelassen sein, egal ob ungedeckt oder lediglich mit geliehenen Wertpapieren oder Bargeld besichert.

Die Entschleunigung würde zugleich die realwirtschaftlich förderliche Wertpapieremission und Kreditvergabe stärken. Denn umgekehrt hat die Eigendynamik aus der Überzahl komplexer Finanzinstrumente und dem rasanten Handel zu einem Schrumpfen des realwirtschaftlich orientierten Geschäfts geführt. Ein Weniger an Beschleunigung und an fiktiver Liquidität bedeutet ein Mehr an Finanzierung. SULEIKA REINERS