Im Würgegriff der Mitte

Die Grünen spielen kaum noch eine Rolle, weder parlamentarisch noch öffentlich. Trotzdem sind ihre Perspektiven nicht schlecht – wenn die Partei auf ihre Stärken setzt

Die Grünen haben es nicht leicht, da sie ihre oft überkritische Klientel stets neu überzeugen müssen

Doch, es gibt sie noch: die Grünen. Aber es ist still um sie geworden. Das Pressecorps der Republik drängt sich um Frau Merkel, auch um Herrn Müntefering. Selbst Westerwelle findet in diesen Wochen mehr Gehör als die Damen Künast und Roth, die Herren Kuhn und Trittin. Was sollte man auch schon auf Statements vonseiten der Öko-Partei geben? Am Spiel der Macht sind sie nicht beteiligt – nirgendwo zwischen München und Kiel. Selbst die Schmuddelkinder von der Linkspartei besitzen demgegenüber mehr gouvernementale Autorität, da sie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern den Kabinetten angehören. Die Grünen haben buchstäblich nichts, was politischen Einfluss sichert: keine Minister, keine Staatssekretäre, keinen verlässlichen parlamentarischen Bündnispartner.

Einerseits jedenfalls. Doch andererseits sind die Aussichten für die Zukunft keineswegs schlecht. Die Grünen hocken nicht nur gesäßgeografisch in der Mitte des Plenarsaals. Sie bilden auch politisch inzwischen so etwas wie die Scharnierstelle. Keine der Volksparteien wird an den Grünen vorbeikommen, wenn sie in mittlerer Frist diesseits der großen Koalition eine Regierungsmehrheit zimmern wollen. Die SPD weiß das sowieso; und die Union hat das im Herbst 2005 zu lernen begonnen. Spätestens im Jahr 2007 werden die Anführer der Volksparteien subkutan die ersten Emissäre zu den einen oder anderen wichtigen Grünen aussenden. Dann werden auch die Medien wieder aufmerksamer. Man wird die Hauptstadtjournaille wieder häufiger mit den Künasts und Kuhns in den Einsteins des Regierungsviertels beim Frühstück beobachten. Und zuweilen dürften am Tisch auch noch der Herr Röttgen oder der Herr Heil ihren Espresso schlürfen.

Die Grünen sind sich sicher, dass es so kommen wird. Daher hält sich ihre Niedergeschlagenheit über den kompletten Machtverlust auch in bemerkenswerten Grenzen. Depressiv, apathisch und resigniert wirken die Aktivisten und Spitzenleute der Ökopartei in diesen Wochen nicht. Sie spüren, dass etwas Neues auf sie zuläuft. Und insgesamt sind sie auch neugierig darauf.

Es knistert sofort, wenn in grünen Veranstaltungen die Debatte auf neue Bündniskonstellationen kommt. Im Grunde drängt es kaum jemanden umstandslos oder gar freudig zu Rot-Grün zurück. Die Nachfolger Fischers haben dieses „Projekt“ hinter sich. Die Erinnerung an die große Liebe ihrer Jugend hat allen Zauber eingebüßt. Einige hätten es lieber Rot-Rot-Grün. Aber die strategischen Köpfe aus der ersten und zweiten Reihe schauen doch fasziniert auf die andere, die herausfordernde, die schwierige Alternative: das Bündnis mit den Feinden von gestern, mit den politischen Repräsentanten des alten deutschen Bürgertums – allein schon deshalb, um mehr Optionen im Spiel zu haben, um dadurch mehr Druck auf die Großen auszuüben, um das eigene Machtpotential steigern zu können.

Und doch tun sich die Grünen schwer, politisch mit der Strategie der Äquidistanz selbstbewusst und offensiv aufzutreten. Denn nichts fürchten sie mehr, als mit dem Opportunismus der Freien Demokraten gleichgesetzt zu werden, wie diese irgendwann als grundsatzlose Pendlerpartei zu gelten. Nichts ist den Grünen nach wie vor wichtiger, als weiterhin im Ruf der nachdenklichen Idealisten zu stehen, denen es trotz allem Realismus doch auch immer um Ethos und Prinzipien, nicht allein um die schnöden Privilegien purer Macht geht.

Kann es funktionieren, die alten Basisidentitäten in ein neues Bündnis des bürgerlichen Establishments von Schwarzen, Grünen und Gelben unbeschädigt mitzunehmen? Ist nicht der kulturelle Antagonismus zu groß, worauf gerade viele Grüne beschwörend hinweisen? Nun ist der hoch emotional geführte Generationenkrieg im deutschen Bürgertum der 1960er-/70er-Jahre, aus der die Partei der Grünen letztlich hervorging, fraglos vorbei.

Kaum jemanden drängt es zu Rot-Grün zurück. Die Grünen haben dieses Projekt hinter sich

Die Grünen sind zumindest soziologisch in ihre Herkunftsgruppe zurückgekehrt. Keine Partei ist bürgerlicher als sie. Ihre Anhänger verdienen in Deutschland das meiste Geld; ihre Wähler verfügen über die höchsten Bildungsabschlüsse; ihre Sympathisanten urlauben häufiger und reisen weiter als alle anderen. Die Grünen sind die Partei der Beamten und Angestellten im höheren öffentlichen Dienst, der Empfänger von BA 1-, A 15- und C 3-Gehältern. Zugleich ist der Anteil von Unternehmern in ihrer Wählerschaft im Laufe der letzten Jahre signifikant angewachsen. Bei den Europawahlen 2004 belegten die Grünen in der Gruppe der Selbstständigen den zweiten Platz, hinter der Union. Dagegen schneidet keine Bundestagspartei in den Quartieren der Arbeiter und Arbeitslosen so schlecht ab wie die Postmaterialisten.

Insofern bilden die Grünen unzweifelhaft einen Teil des Bürgertums in Deutschland. Doch noch ist das hauptsächlich eine soziologische Zuordnung, noch ähneln sich etwa Freie Demokraten und Grüne allein in den Sozialindikatoren Status, Bildungszertifikate, Einkommen. Sozialräumlich und dadurch sozialkulturell indes unterscheiden sich die Orte, an denen die Anhänger der Grünen wohnen und leben, beträchtlich von den Hochburgen des altbürgerlichen Lagers. Das altbürgerliche Lager, besonders die Union, hat seine Stammquartiere im ländlichen Bereich, in kirchennahen Schichten, bei Zugehörigen des primären Sektors, in Stadtvierteln mit vielen Eigenheimen und wenigen Ausländern. Die Grünen hingegen sind die urbane Partei schlechthin. Ihre Wähler arbeiten im tertiären Sektor, sind überwiegend entkonfessionalisiert, haben ihre Wohnung in Straßenzügen mit großen Altbauhäusern bei durchaus hohen Ausländeranteilen. Das jedenfalls zeigt die sozialtopografische Analyse der Bundestagswahlen 2005. Auch die politische Wertematrix der neubürgerlichen Grünen differiert deutlich vom Normengefüge des altbürgerlichen Lagers.

Den Wählern der Union liegt die Wirtschaftspolitik besonders am Herzen, das freidemokratische Elektorat wünscht sich zuvörderst niedrige Steuern, den Anhängern der Grünen dagegen sind Umwelt und soziale Gerechtigkeit am wichtigsten. Im grünen Umfeld fällt die Zustimmung zur EU-Osterweiterung und EU-Mitgliedschaft der Türkei am höchsten aus; im altbürgerlichen Lager dominiert demgegenüber die Angst davor. In einer gewissen Weise sind also die besser verdienenden, intellektuellen, libertären Milieus der Grünen zu bürgerlich, zu elitär, zu antiplebejisch für das weit volkstümlichere altbürgerliche Lager insbesondere der Christlichen Union.

Daher war und ist es auch nicht ganz einfach mit der Jamaika-Koalition, die im September für eine kurze Woche die Berliner Kommentatorenszene schier elektrisierte. Einiges zieht die Grünen dorthin; doch ebenso viel hält sie zurück. Die Grünen stecken im Dilemma aller Mitte-Parteien. Bei den Bundestagswahlen verloren sie einige hunderttausend früherer Wähler nach links und nach rechts, an die Linkspartei wie an das altbürgerliche Lager. Die Mitteposition mag irgendwann die machtpolitische Option der Grünen vermehren, doch zugleich wird sie dann die programmatische Schärfe mindern, die politische Sprache verdünnen, die kulturelle Eindeutigkeit von ehedem vernebeln.

Darin aber lauert die eigentliche Gefahr für die Grünen. Sie lebten im letzten Vierteljahrhundert am stärksten von ihrer expressiven Aura, von dem Hauch der Unkonventionalität, dem Flair der Besonderheit. Der Humus, auf dem der Bedarf nach einem solchen politischen Stil wächst, wird in Zukunft keineswegs geringer sein. Schließlich ist der Typus des „kulturell Kreativen“ – wie ihn der amerikanische Soziologe Paul H. Ray nennt – eher im Vormarsch, vor allem bei den akademischen Frauen. Dieser Typus ist nicht durch einfache Lösungen, leere Phrasen, parolige Versprechen zu beeindrucken. Dieser Typus schätzt vielmehr die Differenzierung, die Brillanz der Argumentation, die originelle Formulierung.

Die Grünen hocken nicht nur gesäßgeografisch in der Mitte des Plenarsaals

Parteien der „kulturell Kreativen“ haben es nicht leicht, da sie ihre oft überkritische, politisch-ästhetisch prätentiöse Klientel immer neu überzeugen müssen. Aber eine Chance ist diese wachsende sozialkulturelle Schicht und Mentalität für die Grünen doch auch. Nutzen können sie sie allerdings nur, wenn sie den Westerwelles und Lafontaines nicht nacheifern, sondern wenn sie ihnen und ihren simplen Lösungsofferten politische Komplexität und intellektuelle Reflexität entgegenstellen.

FRANZ WALTER