Unbekannte Welt

THEATER Das Ensemble Werkgruppe 2 hat sich informiert über die Lebensumstände von Prostituierten. Aus dem Rechercheergebnis ist das Stück „Rotlicht“ geworden, das im April Premiere in Göttingen hat

„Es existiert eine Parallelwelt, die viele nicht mitkriegen“

Julia Roesler, Regisseurin

„Die Gesellschaft soll nicht noch offener werden.“ Kurz stehen die Worte im Raum. Stille. Verwunderte Hörer. Diese Worte klingen nach konservativem Geist, kommen aber nicht aus einer konservativen Ecke. Sie kommen von der Domina Karolina Leppert, 67, kurzer Rock, nachgezogene Wimpern, dunkelrote Lippen.

Sie sitzt auf einem Stuhl im Foyer des Deutschen Theaters (DT) in Göttingen, die Beine übereinandergeschlagen, und betont mehrmals: An die sexuelle Revolution glaube sie nicht. Teile von Lepperts Leben kommen im April auf die Bühne des Göttinger Theaters, das Erlebnisse von Prostituierten aus ganz Deutschland in dem Stück „Rotlicht“ zusammengeführt hat.

„Rotlicht“ präsentiert dabei nur eine Perspektive: Die der Frauen, die in diesem Dienstleistungssektor arbeiten. Es ist eine Branche, die nach Angaben von Ver.di jährlich 15 Milliarden Euro Umsatz macht. Die Zahl der Sexarbeiterinnen wird auf etwa 400.000 geschätzt, die der Freier auf täglich 1,2 Millionen.

Produziert wird das Stück vom freien Theaterensemble Werkgruppe 2. Regisseurin Julia Roesler war zusammen mit Silke Merzhäuser und Anna Gerhards auf den Spuren der Prostitution; sie recherchierten in Laufhäusern, Flatratebordellen und auf dem Straßenstrich. Anhand von Interviews entstand eine dokumentarisch-musikalische Milieustudie.

Angetrieben wurde Roesler vor allem von ihrer Unkenntnis. „Da draußen existiert eine Parallelwelt, die viele nicht mitkriegen“, sagt sie. Und wenn, würden die Medien meist nur die Schattenseiten zeigen. „Man spricht viel zu selten über die selbstgewählte Prostitution. Die macht einen Großteil aus. Natürlich machen es viele aus wirtschaftlicher Not, aber auch Fließbandarbeit oder Reinigungskraft ist keine Selbstverwirklichung.“ Als Prostituierte habe man hingegen am Monatsende 3.000 Euro auf dem Konto.

Die Prostituierten werden auf der Bühne von Schauspielerinnen dargestellt, die die jeweiligen Geschichten transportieren. Karolina Leppert ist erst mit 50 Jahren in das Gewerbe eingestiegen. Aufgewachsen in einem bürgerlichen Elternhaus, das von der Adenauerära geprägt war, lebt sie später mit Ehemann, Haus und festem Job in Bayern. Als ihr dieses Leben zu eng wird, bricht sie aus und geht nach Berlin. Dort entscheidet sie sich einen Bereich kennenzulernen, der sie von klein auf fasziniert: das Rotlichtmilieu. Sie schnuppert in Puffs rein, wird schließlich Domina. Und hat Spaß daran. Ihr Motto: „Eine gute Domina braucht Lebenserfahrung und ein großes Herz.“

Karolina Leppert hat selbst viele Gespräche mit Prostituierten geführt, ferner arbeitet sie bei Hydra, der, so die Selbstbezeichnung, ersten autonomen Hurenorganisation Deutschlands. Auf der Bühne des Deutschen Theaters wird sie gespielt von Nadine Nollau. Bei der Probe sitzt Leppert tief in einem der roten Sessel des Theaters und lächelt. Sie habe sich gut wiedererkannt, sagt sie später. Das komplette Stück aber folgt erst Anfang April.  JOHANNES OLIPTZ

„Rotlicht“: Premiere am 6. April, 19.45 Uhr, Deutsches Theater Göttingen