Anselm-Kiefer-Retrospektive in London: Lebenslang Nachkriegskünstler
Die Ästhetik der Zerstörung hat Anselm Kiefer nie losgelassen. Die Royal Academy of Art in London widmet ihm eine große Retrospektive.
Die Ankunft erfolgt über das Meer, wie es sich gehört als eine Referenz für die britische Nation der Seefahrer. Nicht weit vom Trafalgar Square und dem Waterloo Place entfernt liegt die Royal Academy of Arts in London. Dort beginnt eine große Retrospektive für Anselm Kiefer im weiten Hof mit zwei Vitrinen, die den Seeschlachten der Weltgeschichte gewidmet sind. U-Booten gleich schweben bleierne Hülsen durch das Sonnenlicht oder sind auf den Grund aus gesprungener Erde gesunken.
Das ist ein ebenso melancholisches wie poetisches Bild, das großen Abstand hält zum konkreten Leiden der auf See Gestorbenen. Dazwischen treiben die Daten historischer Seeschlachten, die, auf graue Leinwand geschrieben, mystische Rechenspiele behaupten: „Seeschlachten wiederholen sich alle 317 Jahre oder deren Vielfachen.“ Geht es doch um nichts weniger als den ganzen Echoraum der erfassten Geschichte.
Damit ist schon eines der Motive klar, das die Kuratorin Kathleen Soriano in ihrem Blick auf Anselm Kiefer stark macht. Er ist ein Künstler, der den Schauplatz seiner Nachkriegskindheit nie verlassen hat. Keiner der drei Essays im Katalog kommt ohne die Erzählung darüber aus, wie der im März 1945 geborene Künstler in zerbombten Häusern spielte und sich an Familienerzählungen über den Wald als Versteck der letzten Kriegstage erinnerte. Hier schon beginnt die sinnliche Nähe zu Lehm und Holz, zwei der Materialien, deren Transformationen in seinen Werken eine große Rolle spielen. Und ebenso die Beschäftigung mit der Kraft der Zerstörung als ästhetischem Mittel.
Der Mann, dem ein Zweig aus der Brust wächst
Anselm Kiefer, Royal Academy of Arts, London, 27. September bis 14. Dezember 2014
Wie ein Nukleus umfasst dann der erste Ausstellungsraum, der frühen Arbeiten Kiefers aus den sechziger, siebziger Jahren gewidmet ist, alle Themen, die man in den elf folgenden, großenteils chronologisch geordneten Sälen abschreiten kann. Der liegende Mann, dem ein Zweig aus der Brust wächst in einem Aquarell von 1971, wird einem noch oft begegnen unter einem weit aufgespannten nächtlichen Himmel oder unter schwarzen Sonnenblumen. Ebenso der blutbefleckte Schnee, Metapher für eine Landschaft, die erstarrt und abgestorben scheint angesichts der Schrecken, deren Zeugen sie wurde.
Und vor allem die Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus, gegen deren Beschweigen Kiefer Ende der sechziger einen performativen Akt setzte, sich selbst in der Pose des Hitlergrußes fotografierte, in Uniform oder im langen Strickkleid, vor Denkmälern und historischen Kulissen.
So stellte er seine Selbstbefragung aus und paraphrasierte das Eingeständnis für die Empfänglichkeit heroischer Inszenierungen in Gemälden nach den Fotografien. Diese frühen Bilder lassen aber zugleich mehr Skepsis und Ironie gegenüber dem Bedürfnis nach Größe erkennen als viele der späteren Bilder.
Der Zerfall des Heroischen
Dass Anselm Kiefer selbst in seinen skulpturalen Landschaften und Bildern dem Drang zum Monumentalen verfalle, ist ein Vorwurf, der vor allem in der Rezeption in Deutschland gegen ihn erhoben wird. Die Retrospektive ficht das erst mal nicht an. Die hohen, repräsentativen Säle der Royal Academy of the Arts hungern ja geradezu nach solchen Formaten, nicht selten drei mal fünf Meter, und nehmen sie mühelos auf. Man wandert hier gelassen vorbei am Zerfall des Heroischen, ob die Gemälde nun die Architektur der Nazis oder ägyptische Pyramiden zitieren.
Was der Ausstellung aber fehlt, ist die Vermittlung der Elemente des Chaotischen und der Verunsicherung im Prozess der Entstehung der Werke. Die Texte im Katalog, zum Beispiel von Richard Davey, der Kiefer in seinem Atelier, einem ehemaligen Warenhaus nahe Paris, besucht hat, beschwören solche Momente, in denen der Künstler, streifend durch einen unendlich wuchernden Wust von Werken und Materialien, sich mitten im Sinnlosen wiederfindet, fremd seinem eigenen Werk gegenüber.
Das Leiden der Bildkörper
Wenn Kiefer seine Leinwände Feuer und Säure aussetzt, vergräbt oder über Jahre in Container verschließt und den Bildkörper einem stellvertretenden Leiden unterwirft, hat das immer auch etwas von Kampf, vom vielleicht auch verzweifelten Suchen nach einer bedeutungstragenden Schicht.
Die Gedichtzeilen, oft von Paul Celan, die Kiefer auf viele seiner Leinwände schreibt, werden nur zu leicht als inhaltliche Deutungsmuster und Richtungsweiser gelesen. Ist es nicht enttäuschend, wenn damit am Ende das eigentliche Ereignis der Bilderwerdung, das Entstehen der schweren Krusten aus Erden und Farben, das Zusammenbacken ihrer Atome in unter chemischen Aspekten nicht selten experimentellen Bedingungen, zurückgedrängt wird?
Man könnte ein solches Gefühl von Vergeblichkeit in eine Installation hineinlesen, die Kiefer für einen gekuppelten Saal der Academy entworfen hat. Unter goldgefassten Nischen mit Büsten von Sponsoren und Künstlern der Akademie-Geschichte erhebt sich eine Pyramide aus scheinbar achtlos gestapelten Leinwänden. Dazwischen geschoben sind Klumpen aus ungestaltem Lehm und trockene Sonnenblumen, die immer wieder als Symbol von Vergänglichkeit und Wiedergeburt auftauchen. Rings um den Berg herum liegen Placken abgeplatzter Farbe, das Kunstwollen ist übergegangen in die Erzeugung von Dreck. Auch so herum gesehen hängt eben alles mit allem zusammen.
Symbolische Überdehnung
Der Titel, „Die Erdzeitalter“, und übermalte Fotografien der Installation an den Wänden, die Parallelen zwischen den Schichten im Bilderstapel und den Schichten der Erdzeitalter behaupten, greifen dann jedoch wieder sehr ins Weite aus, und diese symbolische Überdehnung macht die Sache letzten Endes eher wieder kleiner als größer.
In neueren Interviews und Gesprächen bezeichnet sich Anselm Kiefer manchmal selbst als Zyniker, der die Lust des Menschen an der Zerstörung für eine elementare Komponente des Menschseins hält, die moralisch zu bewerten deshalb wenig Sinn ergibt. Im Umgang mit seinen Materialien, im Horten von Dingen, die nicht zuletzt auch aus realen Kriegen stammen, lebt er diese Faszination durch den Schrecken aus. Aber dort, wo die Werke öffentlich werden, sind sie durch eingeschriebene Wörter, Bezüge zur Mythologie und Poesie, doch wieder abgemildert, in Sinnstiftung eingegliedert oder Gesten der Demut. So viel Überbau, warum tut er nur not?
Man kann sich in London, in der Tate Britain, gerade mit einer Bildhauerin der Generation von Anselm Kiefer beschäftigen, die ohne solchen Überbau eine nicht weniger große und doch sehr viel leichtere Installation über mehrere klassizistische Räume hinweggespannt hat.
Phyllida Barlow, 1944 geboren, ist in Deutschland kaum bekannt, eher Schüler der Kunstprofessorin wie Rachel Whiteread und Douglas Gordon. In der Tate Britain erstreckt sich noch bis 19. Oktober von ihr eine Arbeit, die ebenfalls die Werkstoffe der Kunst verhandelt, mit Pyramiden aus Latten mit Farbresten, Säulen aus gerollter Pappe und farbigen Klebebändern, beherzt respektlos gegenüber der repräsentativen architektonischen Hülle, deren Größe aber mühelos standhaltend, ohne mythologische Referenzen zu bemühen. Solch eine Durchlässigkeit und auch Alltäglichkeit, in die Gegenwart ohne Anstrengung eindringen kann, wird man bei Kiefer nie finden.
Die Gotik und der Akt
Aber auch bei ihm gibt es Überraschungen. In einem der letzten Räume kann man über Vitrinen gebeugt aufgeschlagene Seiten von großen Büchern sehen, die 2013 entstanden sind. Einige haben Seiten aus Blei, auf denen elektrolytische Prozesse prächtige Farben hervorgebracht haben. Andere zeigen unter dem Titel „Die Kathedralen Frankreichs“ Aquarelle, in denen die gotische Architektur von Frauenakten kommentiert und interpretiert wird.
Da schießt ein Kirchturm zwischen den Schenkeln einer Frau empor, und das Dunkel in hohen Seitenschiffen lockt wie die gespreizten Schamlippen einer anderen. Das mag eine Altmännerfantasie sein, lässt sich aber auch als ein etwas böser Humor lesen, mit dem Kiefer das Mystische und das Himmelstrebende, das so vielen seiner Arbeiten eigen ist, einmal anders interpretiert.
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