Friedrichshain-Kreuzberg: Flüchtlinge als Sündenböcke
Wer ist Schuld, dass Vereine und Jugendzentren sparen müssen? Wenn man den Medien glaubt: die Flüchtlinge. So einfach ist es allerdings nicht.
Die vor zwei Monaten verhängte Haushaltssperre im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sorgt für Aufsehen in den Medien. „Geldnot wegen Flüchtlingen“ schrieb der Tagesspiegel. „Flüchtlinge treiben Berliner Bezirk in die Pleite“, lautete die Überschrift in der Jungen Freiheit. Noch härter formulierte es der Kurier: „Der Umgang des Bezirks mit den Flüchtlingen in der Gerhart-Hauptmann-Schule hat Friedrichshain-Kreuzberg finanziell das Genick gebrochen.“
Jede Kürzung im Bezirk, auch jeder nicht erfüllte finanzielle Wunsch wird seither mit den Zahlungen wegen der Flüchtlinge in der besetzten Schule in Verbindung gebracht. Die Morgenpost schlagzeilte: „Bezirk streicht nach Flüchtlingschaos Geld für Jugendzentren“. Der Tagesspiegel wieder: „Der Bezirk leidet unter einer Haushaltssperre, vor allem wegen der Ausgaben für die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule. Vereine und Schulen spüren die Geldnot. Auch Bauarbeiten auf Spielplätzen müssen warten.“ Die taz schrieb: "Rund 40 Besetzer sind noch im Gebäude, das rund um die Uhr von einem Sicherheitsdienst bewacht wird. Der ohnehin klamme Bezirk geht an diesen Kosten fast zugrunde". Und der Kurier schrieb über die Grünen, die die Hilfen für die Flüchtlinge beschlossen hatten: „Sie spielen die Guten, wir müssen bluten.“
Diese Berichterstattung ist aus vier Gründen einseitig und grob irreführend:
1. Andere Bezirke
Friedrichshain-Kreuzberg hat seine Haushaltssperre am 3. September verkündet, Charlottenburg-Wilmersdorf am 17. September und Marzahn-Hellersdorf Anfang Oktober. Die Medien berichteten darüber in den letzten zwei Monaten wie folgt:
B.Z: 7 Artikel mit den Worten "Haushaltssperre" und "Friedrichshain-Kreuzberg"mit insgesamt 1462 Wörtern, 1 Kurzmeldung mit 74 Wörtern über Charlottenburg-Wilmersdorf, 1 Kurzmeldung mit 36 Wörtern über Marzahn-Hellersdorf.
Berliner Kurier: 3 Artikel mit 750 Wörtern über die Haushaltssperre in Friedrichshain-Kreuzberg, 0 über Charlottenburg-Wilmersdorf, 0 über Marzahn-Hellersdorf
Berliner Zeitung: 4 Artikel mit 1.751 Wörtern über Friedrichshain-Kreuzberg, 0 über Marzahn-Hellersdorf, 0 über Charlottenburg-Wilmersdorf
Morgenpost: 8 Artikel über Friedrichshain-Kreuzberg mit insgesamt 3.813 Wörtern, 2 Artikel mit 938 Wörtern über Charlottenburg-Wilmersdorf und 1 Kurzmeldung mit 45 Wörtern über Marzahn-Hellersdorf.
Tagesspiegel: 7 Artikel mit insgesamt 3.188 Wörtern über Friedrichshain-Kreuzberg, 0 über Charlottenburg-Wilmersdorf und 0 über Marzahn-Hellersdorf.
taz: 7 Artikel mit 5.084 Wörtern über Friedrichshain-Kreuzberg, 0 über Charlottenburg-Wilmersdorf, 0 über Marzahn-Hellersdorf.
Es gibt also eine massive mediale Fixierung auf Friedrichshain-Kreuzberg. Über die identische Maßnahme in anderen Bezirken wird wesentlich weniger berichtet - wenn überhaupt. Ein objektiver Grund dafür ist nicht erkennbar.
2. Frühere Jahre
Zweitens bleibt in den Medien unerwähnt, dass es in Friedrichshain-Kreuzberg in den letzten fünf Jahren viermal eine Haushaltssperre gab. Es handelt sich also um ein Standardinstrument, dass im Bezirk auch in Jahren ohne Extrakosten für Flüchtlinge regelmäßig angewendet wird. Als im Jahr 2011 der damalige Finanzstadtrat Jan Stöß (SPD) eine Haushaltssperre verhängte, gab er dafür „insbesondere Energiekosten und Kosten für den Winterdienst“ an. Anschließend erschienen in den Medien übrigens keine Artikel darüber, dass die Energiekonzerne eine Mitschuld an den Sparmaßnahmen im Bezirk tragen.
3. Weitere Verantworltiche
Drittens sind die Flüchtlinge nur der Grund für einen Teil der ungeplanten Mehrausgaben – nämlich für zwei der vier Millionen Euro. Laut Finanzstadtätin Jana Borkamp (Grüne) bedeutet das: „Auch ohne die Flüchtlinge hätten wir im September eine Haushaltssperre verhängen müssen.“ Die anderen Mehrkosten entstanden etwa durch Pfusch am Bau und die Reinigung von Schulen. Trotzdem werden immer nur die Flüchtlinge als Schuldige benannt, nicht auch die Baupfuscher und Schulputzer.
4. Andere Ebenen
Viertens wird die Größe des Haushaltslochs in Friedrichshain-Kreuzberg nie in Relation zu anderen Haushaltslöchern gesehen. Wenn dem Bezirk bei einem Haushalt von über 600 Millionen Euro ein Defizit von 4 Millionen droht, sind das 0,6 Prozent. Im Bund lag die Neuverschuldung im vergangenen Jahr bei 7,4 Prozent des Haushalts.
Die mediale Fixierung auf Friedrichshain-Kreuzberg hat offenbar keinen anderen Grund, als dass es hier mit den Flüchtlingen eine Gruppe gibt, der der Schwarze Peter zugeschoben werden kann/soll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug