JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE
: Das Böse kommt auf komplexen Soli

Selbsterfahrungscrashkurs für Konfliktscheue, heute: eine Konfrontation mit professionellen Melodicrockern

Jetzt bin ich letztens schon wieder in eine dermaßen nervenzerrüttende Zeitdehnung hineingeraten, ich wär fast hin gewesen. Folgender Hergang. In meinen Eigenschaften als Musikjournalist, Förderer der Rockkunst und vor allem jemand, der an Donnerstagabenden immer mal Zeit hat, war ich einmal mehr in die Jury bei einem lokalen Bandwettbewerb geladen worden.

Wie für Vorrundenabende üblich, gab es Auftritte von vier Bands recht verschiedener Couleur zu begutachten. Wobei die Couleur von der einen total schlimm war. Fünf junge Männer hatten sich komplexen Melodic Rock mit romantischem Touch auf die Fahnen geschrieben und rangen also mit ihrer (selbst gewählten) technischen Überforderung und (vermutlich anerzogenen) ästhetischen Verirrung (ich behaupte, ein junger Mensch hat keinen komplexen Melodic Rock zu spielen, sondern was Gescheites; komplexen Melodic Rock kann man immer noch spielen, wenn man dann älter ist oder tot), was sich durchaus quälerisch anließ. Entsprechend schnittig fielen die Kommentare im Jurorenhinterstübchen aus, entsprechend Gruppenletzter wurde die romantische Melodicrockband. Als das Ergebnis verkündet war und sich der Saal leerte, passierte es. Eben noch lustig, drehte ich mich herum – da standen sie vor mir. Umringten mich wie eine abgefeimte Gang in der Bronx. Die romantische Melodicrockband!!!

Ach, hätten sie mir nur einfach eine aufgestrichen und die Sache damit bewenden lassen.

Aber sie waren leider keine aggressiven jungen Männer, nein: Sie waren ernsthafte junge Männer. Und sie wollten „Feedback“! Haben Sie eine Vorstellung, wie ernsthaft ein 19-Jähriger sein kann? Der gerade eine zerknirschende Erfahrung gemacht hat und wild entschlossen ist, dieser jetzt in aller Professionalität (und sind wir denn nicht alle Profis?) Konstruktives abzugewinnen? Da standen sie mit ihren entsetzlich jungen, ernsthaften, zerknirschten Gesichtern – im Hintergrund lugte die Fanschaft aus Vätern, Müttern, Klassenkameraden – und wollten von mir wissen, nun mal ganz konkret, inwiefern sie wie schlecht waren. Um an sich arbeiten zu können. Dies war ein Überfall. Ich rang nach Worten. Klar: Jetzt musste ich „performen“, um nicht wie ein zynischer Fatzke dazustehen, der Kopf-ab-Urteile fällt, ohne sie begründen zu können. Ich rang weiter nach Worten. Ich, ja, underperformte.

Und ich muss dazu wohl was erklären: Ich weiß vielleicht nicht genau, warum ich Musik„schreiberling“ geworden bin. Doch ganz sicher NICHT, um zerknirschten 19-Jährigen ins Gesicht hinein auseinander setzen zu müssen, inwiefern sie wie schief gewickelt sind.

Wenn ich das könnte, wäre ich der Kerl da in der DSDS-Jury oder hätte was Anständiges gelernt. Ich möchte bitte in meinem Elfenbeinturm, halbe Treppe, sitzen und bitte mit feinen Bonmots gespickte Rezensionen abfassen und dann bitte Ruhe. Bitte. Die romantisch-zerknirschten Melodicrocker gaben keine Ruhe. Sie fragten jetzt Gitarrenleistungen ab. Ich druckste herum. Der Gesang? Ich lavierte. Zerknirschte Blicke aus jungen Gesichtern. Ganz ernsthaft. Und die Texte? Sie bohrten voll rein. Nun, die Texte. Es wurde verächtlich geschnaubt: Hatte ich überhaupt richtig zugehört? Waren wir etwa doch nicht alle Profis?

Ich wollte jetzt heim. Nun, die Texte. Ich nahm meinen Mut zusammen. Im Gesamteindruck sei das doch alles … nun … recht … schwülstig dahergekommen. Jetzt war es also raus! Schwülstig! „Wie meinst du das genau, ‚schwülstig‘?“, fragte der Drummer. Ich weiß nicht mehr, wie lange dieses Sadomaso-Spiel so weiterging. Nach gefühlten acht Stunden hatten die Melodicrocker ihre Rache und ließen von meiner ausgelaugten Hülle ab. Ein Jurykollege trat heran: Er finde das gut, wie ich auf die Band zugegangen sei, um sie „moralisch etwas aufzurichten“.

Ja, eben, wer fördert denn die Rockkunst, wenn nicht wir Profis. Ich habe mich jetzt allerdings für einen VHS-Kurs „Yogisches Fliegen“ eingeschrieben. Und bin deshalb leider die nächsten 17 Jahre donnerstagabends unabkömmlich.

Fragen zum Zeitverflug? kolumne@taz.de Morgen: Martin Reichert über LANDMÄNNER